Big Thief - Double Infinity (2025)

Big Thief haben aus der Not eine Tugend gemacht. 


Die Not war, dass ihnen das Gründungsmitglied, der Bassist Max Oleartchik, im Jahr 2024 abhandengekommen war. Die Tugend ist, dass sie diese Situation für eine Sound-Renovierung nutzten. Zu diesem Zweck hat sich das verbliebene Trio - neben der Sängerin Adrianne Lenker sind das Buck Meek an der Gitarre und der Schlagzeuger James Krivchenia - als Ersatz einige Gäste für die Aufnahmen zu ihrem sechsten Album "Double Infinity" ins Studio geholt. Dazu gehören Laraaji, der sich auf stimmungsvolle Hintergrundgeräusche und -gesänge konzentriert, der Bass-Ersatz Joshua Crumbly, Mikey Buishas an den Tasten, die Percussionisten Mikel Patrick Avery, Jon Nellen und Caleb Michel, Adam Brisbin an der Gitarre sowie die Sängerinnen Hannah Cohen, June McDoom und Alena Spanger.

Big Thief fanden 2014 in Brooklyn zusammen, nachdem Adrianne Lenker schon eine Solo-Karriere hinter sich gehabt hatte. Die Gruppe generierte seit Beginn einen abwechslungsreichen, unkonventionellen Folk-Rock, dessen Ausdruck von intim-zurückhaltend bis ruppig-aggressiv reichte und auf Adriannes persönlich gefärbte Geschichten zugeschnitten war. Ihre Stimme ist die Konstante, die den ganzen Trubel zusammenhält. Sie wirkt wie emotionaler Klebstoff, denn sie kann ihre Stimmbänder je nach Bedarf unauffällig, aber auch beherrschend schwingen lassen.

Für die Sängerin, Gitarristin und Komponistin Adrianne Lenker bedeutet die Musik in gewisser Weise auch eine Form von Therapie. Das Mädchen wurde in einer christlichen Sekte aufgezogen, aus der ihre Eltern flohen, als sie sechs Jahre alt war. Danach führte die Familie ein modernes Nomadentum, sodass sich das Kind nirgends richtig zu Hause fühlen konnte. Ihr blieb das Hineinversetzen in Töne, das ihr Vertrauen und Zuversicht bot sowie Kraft spendete. Als Musikerin hatte sie dann Gelegenheit, ihre Erfahrungen aktiv zu verarbeiten ("Jedes Mal, wenn ein Song entsteht, fühlt es sich an, als käme er von woanders, nicht von mir.")

In der ARD-Kultursendung "Titel, Thesen, Temperamente" vom 31. August 2025 erklärte Adrianne das Konzept hinter den "Double Infinity"-Kompositionen mit einem Ausdruck für das "Leiden des Menschseins, dem Ringen, dem Schmerz. Aber gleichzeitig gibt es darin auch diese Momente intensiver Freude. Sogar der Ekstase." Die doppelte Unendlichkeit könnte so gemeint sein: Es gibt eine gefühlte Unendlichkeit im Diesseits, die sich durch Freude und Leid definiert und eventuell eine totale Unendlichkeit im Jenseits. Auf dem Album befinden sich neun Stücke mit knapp 43 Minuten Laufzeit und es hat den Anschein, als hätten Big Thief damit eine Essenz ihres derzeitigen Denkens und Daseins sowie der damit verbundenen privaten und gesellschaftlichen Themen abgeliefert, die sie berühren und bewegen. 

Das Eröffnungsstück "Incomprehensible" hat das Leben, das oft unergründlich und unverständlich erscheint, im Blick. Eine Erinnerung an die familiäre Vergangenheit bringt zerstörerische Glaubenssätze zutage: "Ich habe Angst vor dem Älterwerden, das habe ich gelernt zu sagen. Die Gesellschaft hat mir die Worte gegeben, so zu denken.") Aus den Trümmern der Vergangenheit lässt sich allerdings eine unbelastete Zukunft konstruieren: "Und alles, was ich von jetzt an sehe, wird etwas Neues sein." Sphärisches Flimmern entführt als Untermalung zunächst in fremde Welten, bevor das Rhythmusgespann mit abgespecktem Druck klarmacht, dass der Song nicht in den Gedanken falscher Wahrnehmungen hängen bleibt, sondern durchaus mit beiden Beinen in der Realität steht. Dennoch gibt es Töne, die Traumwelten simulieren. Aber die Mischung macht den kitzelnden Reiz aus, denn rauschhafter Psychedelic-Rock trifft auf Singer-Songwriter-Klarheit.
 

Mit "Words" vertieft sich Adrianne in einen Trance-Zustand. Musikalisch klingen Töne an, die indische Ragas ins Bewusstsein befördern. Zumindest entsteht ein Klangwirbel, der für einen bewusstseinserweiternden Eindruck sorgt ("Ich bin immer nur halb zu Hause, immer nur halb allein. Mit meinem Unterbewusstsein. Unterbewusst.")

Der exotische Zauber dauert an und findet sich bei "Los Angeles" in entspannten, weitläufigen Cosmic-Americana-Formeln wieder, die Hoffnung auf eine bessere Welt verbreiten. Wenn aus einer vergangenen Liebe Freundschaft wird - so wie hier beschrieben - hat die Vergebung gesiegt und Hass bekommt keine Chance.

 
Bei "All Night All Day" klingt Adrianne auf spiritueller Ebene wie eine mitfühlende, tief mit ihrer Komposition verbundene Lucinda Williams. Das Lied öffnet sich so weit, dass es durchlässig, verletzlich und filigran anmutet. Kann es eine intensivere Verbindung zwischen Leib und Seele geben? Die Zeilen: "Gift schlucken, Zucker schlucken. Manchmal schmecken sie gleich. Aber ich weiß, dass deine Liebe weder das eine noch das andere ist", stehen für Hingabe und Vertrauen, was die Basis für eine erfüllte Liebe ist.


Der titelgebende Track "Double Infinity" präsentiert sich als melancholische Ballade Es geht zum einen um die Problematik, dass Menschen häufig in der Vergangenheit oder Zukunft, anstatt in der Gegenwart leben, aber auch um das, was uns nach dem Dasein erwartet ("So verzweifelt an der Vision und Erinnerung. An der Brücke zweier Unendlichkeiten. Was entsteht, was verblasst.)" Was zunächst unspektakulär und etwas zu süßlich klingt, überzeugt beim mehrfachen Hören durch eine vertonte Standhaftigkeit, die sich unterbewusst stärkend auf die Hörerschaft auswirkt.


Zurück zu den hypnotischen Eindrücken, die traditionelle Weltmusik bieten kann: Der siebenminütige Trip "No Fear" vermittelt erneut eine gelassen-konzentrierte Wirkung, die durch Bestandteile orientalischer Musik erzeugt wird. Hinzu kommen stimulierende Klänge, die aus den Sound-Laboren der drogengeschwängerten Hippie-US-Westcoast-Szene stammen könnten. Sie produzieren einen schwebenden Zustand, der uns eventuell die hektische Umwelt vergessen lassen könnte. "Es gibt keine Angst" ist dabei eine Aussage, die alle Sorgen vertreiben will.


Das Thema Vergänglichkeit und die ständige Angst vor der Zukunft beschäftigen "Grandmother". Das Lied erinnert an eine Stimmung, die an einen geruhsamen Aufenthalt auf einem Boot inmitten eines Sees denken lässt: Fernab des gewohnten Lebens entsteht eine Atmosphäre, die vom wirklichen Leben ablenkt. Es ist, als beobachte man das Geschehen aus der Perspektive eines Außerirdischen. Geistig klar, aber distanziert.


"Happy With You" kann innerhalb des ansonsten voll gelungenen Song-Reigens durchaus als kompositorisch missraten bezeichnet werden. Manche Worthülsen werden bis zum Erbrechen wiederholt und gehen dadurch einfach gehörig auf die Nerven.


Schwamm drüber, denn "How Could I Have Known" entschädigt für den Totalausfall von 
"Happy With You". Das Verlangen nach Verbundenheit und das Eingeständnis, dass wir alle fehlerhaft sind, stehen im Mittelpunkt dieses harmonisch ausgewogenen Liedes und lassen das Album tröstlich und angenehm reizvoll ausklingen.


Es heißt manchmal, dass aus Kummer große Kunst entstehen kann. Was "Double Infinity" angeht, kann man diese These unterschreiben. Big Thief konnten ihren Folk-Rock-Sound aktuell trotz einiger Widrigkeiten noch mehr ausweiten und haben ihn dadurch aufgewertet und weiterhin interessant gehalten.

Zum Abschluss gibt es noch eine Aussage aus "ttt", die die Philosophie hinter "Double Infinity" abrundet: "Dieses Album soll mir selbst und allen unseren Freunden einen Ort geben, an dem wir Energie tanken und uns durch das Hören der Musik wieder aufladen können. Um den Dingen zu begegnen, denen wir uns als Kollektiv stellen müssen." Dem ist nichts hinzuzufügen. Außer: "Double Infinity" ist eine gelungene Vorstellung davon, wie aus einer Not eine Tugend geworden ist.

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