Pernice Brothers - The World Won`t End (2001)


Aus "The World Won`t End" spricht die Stimme des Verstandes und des Herzens.

Befindet man sich auf der Suche nach einem zerbrechlichen, gefühlvollen Song, der dermaßen erschüttert und berührt, dass er nie wieder aus dem Gedächtnis verschwindet, so kann es sein, dass "Two Weeks Past" von den Scud Mountain Boys, was auch als "Freight Of Fire" gelistet wird, die absolut erfüllende Wahl ist. Das Lied wurde erstmals 1994 auf der Americana-Zusammenstellung "Hit The Hay" präsentiert. Ein Jahr später tauchte es auf dem Scud Mountain Boys-Album "Dance The Night Away" in einer veränderten Version als "Freight Of Fire" auf. Diese Fassung lässt zwar an Tiefgang nichts vermissen, die "Two Weeks Past"-Einspielung fühlt sich jedoch wesentlich intimer an und wirkt dadurch auch intensiver. Sie scheint in einem dieser magischen Momente entstanden zu sein, wo sich das gesamte Universum auf das unbedingte Gelingen eines Zaubers eingestellt hat und die Musiker von dieser Aura beseelt waren.

Die elektrische Gitarre spielt bei der ursprünglichen Aufnahme eine verträumte und dennoch aufmerksame Melodie und die akustische Gitarre trägt dazu sanft-traurige Akkorde bei. Der Bass dient als wärmende Schicht, die alle Komponenten liebevoll zusammenführt. Dieses melancholische Intro stoppt kurz, setzt wieder neu an und nimmt den milden, behutsamen, verführerisch verwirrenden Lead-Gesang, der sich wie ein schützender Balsam um die Instrumente legt, mit an Bord. Der punktuell einsetzende Hintergrundgesang unterstützt diese himmlisch wohlige Atmosphäre noch zusätzlich, sodass es die E-Gitarre leicht hat, nach einer Weile zu einem Solo anzusetzen, welches sich wie eine brüderlich verbundene zweite Stimme anhört. Immer wieder kommt es zu Pausen, in denen man kaum zu atmen wagt, um die "heilige Messe" nicht zu stören. Wenn das Stück nach vier Minuten zart ausklingt, hat sich ein entspannter Zustand breitgemacht, so als hätte man einer Meditation beigewohnt, die zu einem klaren, aufnahmebereiten Geist führt. Unbeabsichtigt ist eine Art von Andacht entstanden, zumindest, was die sakrale Ausstrahlung angeht.

Der Konstrukteur dieses Wunderwerks heißt Joe Pernice und er war Sänger, Gitarrist und Komponist bei den Scud Mountain Boys, die 1991 in Massachusetts gegründet, 1997 aufgelöst und 2012 reformiert wurden. 1996 startete Joe zusammen mit seinem Bruder Bob die Formation Pernice Brothers, die die bisher vorherrschenden klassischen Americana-Haupteinflüsse, wie Folk und Country, bei dem neuen Projekt reduzierten. Stattdessen setzten die Musiker vermehrt auf komplexen, anspruchsvollen Pop, bei dem Elemente des Soul und des Barock stimmungsvoll integriert wurden, was auch zu einem üppigeren Tongeflecht beitrug. 1998 erschien das Erstlingswerk "Overcome By Happiness" und 2001 folgte mit "The World Won`t End" ein weiteres Referenzwerk des gehobenen Adult-Pop. Und auch in diesem Bereich beweist Pernice sein außerordentlich sensibel ausgeprägtes Talent für süchtig machende Sounds, die sich sowohl eingängig als auch kultiviert-niveauvoll anhören. "The World Won`t End" wurde als Sextett mit neun Gästen eingespielt, was zu einem satten, aber dennoch unmittelbaren, durchlässigen Klang führte.

Pernice Brothers — New West Records Press

Die geschmeidigen Stücke "Working Girls (Sunlight Shines)"

und "Let That Show"

offenbaren elegant-raffinierte Ideen im Geiste von Big Star oder Teenage Fanclub, die aufbauend daherkommen und süffig zusammengestellt wurden, ohne protzig aufzutrumpfen. Damit legen sie die Basis für das, was noch zu erwarten ist. Nämlich eine optimale Mischung aus Energie und Zurückhaltung, die eine feine Reibung erzeugt, wodurch Sympathie und Empathie ausgelöst werden. Da fließt unterschwellig die Verführungskunst des Southern-Soul und die Leidenschaft des Power-Pop zu jeweils 100 Prozent ein, auch wenn das mathematisch gar nicht möglich ist. ""Ich war hier", kritzelte sie in eine Toilette, um zu beweisen, dass sie am Leben war", ist eine Textzeile, die den Kontrast zwischen zuversichtlicher Musik und gedankenvoller Poesie bei "Working Girls (Sunlight Shines)" verdeutlicht. Bei "Let That Show" geht es um Reue ("War eine Zeit, in der ich nicht rücksichtsvoll zu dir sein konnte. Es ist ein Verbrechen, wenn ich an all die Scheiße denke, die ich dir angetan habe"), die sich im peitschenden Rhythmus manifestiert.

Für "7:30" konkurrieren der Schwung des Motown-Soul mit der Unnachgiebigkeit des Garagen-Rocks miteinander um die Gunst der Hörerschaft. Das geschieht in gegenseitiger Verbundenheit zur Qualitätssteigerung des Ergebnisses. Will heißen: Beide Eigenschaften treiben den Song vorwärts und verleihen ihm einen unwiderstehlichen Groove, der ihn zeitlos jugendlich erscheinen lässt. Der Protagonist denkt über verpasste Gelegenheiten nach ("Da ist nichts, nur Bitterkeit") und steht mit diesen untröstlichen Auffassungen in Trotzhaltung zur heilsamen Musik da. 

Demgegenüber ist "Flaming Wreck" ein elektrisch aufgeladener Rocker mit einem Herz aus Glas und einem schüchternen Gemüt. Krachende Momente wechseln sich mit intimen Passagen ab, die durch den gehauchten Gesang Anteilnahme erwecken.


Die übrigen Tracks sind in ihrer mitfühlenden emotionalen Ausrichtung ziemlich gleichwertig, was in diesem Fall kein Makel, sondern ein besonderes Qualitätsmerkmal ist. Diese Homogenität ist nämlich keine gesichtslose Gleichförmigkeit, sondern ein Ausdruck eines in sich geschlossenen Systems, das die Songs trotz unterschiedlicher Instrumentierung und Geschwindigkeit sofort als miteinander verwandt erscheinen lässt.

Muss eine Ballade unbedingt schwermütig klingen? Nicht zwangsläufig. Bei "Our Time Has Passed" trifft inhaltliches Bedauern über die zu kurz miteinander verbrachte Zeit auf dynamisch abwechslungsreiche, attraktiv-zugängliche Musik. Sie lehnt sich tapfer gegen den Trübsinn auf und erlangt als Belohnung inneren Frieden. Heraus kommt ein Stück, das aus der Not eine Tugend macht und den Trennungsschmerz als lehrreiche Lebenserfahrung begreift. Ein hinreißender Ohrenschmaus! 

"She Heightened Everything" erinnert mit seinen flirrenden E-Gitarren an die frühen The Byrds, kann aber auch Verweise an den ausschweifend verzierten Pop von The Left Banke aufweisen. Deshalb zeigt sich das Stück nicht nur anschmiegsam und prachtvoll, sondern wird sogar von einem Hauch perlender Erotik durchzogen. 

Auch "Bryte Side" verfügt über eine romantische Ader, wobei der inbrünstig säuselnd-erregte Gesang genüsslich für Gänsehaut sorgt. Anteilnahme und zuversichtliches Auftreten sind bei diesen drei Beispielen zwei Seiten einer Medaille, die sich das Prädikat "konstruktive Melancholie" verdient hat.


Das sentimentale "Shaken Baby" sucht auf rührende Weise nach Argumenten, um eine Beziehung fortzuführen. Der Song ist im Kern eine Piano-Ballade, die durch eine reichhaltige Instrumentierung zu einem luxuriösen, herzzerreißenden Mini-Drama aufgeschäumt wurde. 

Die psychedelisch angehauchte "The Ballad Of Bjorn Borg" klingt in ihrem poetischen, abwertenden, hilflosen Bemühen, eine zerbrochene Beziehung nicht als die große Liebe erscheinen zu lassen, zweckoptimistisch-stabil, zwischendurch aber fiebrig. Das soll wohl das wahre Gesicht der Enttäuschung kaschieren. 

Traumwandlerisch weiche Keyboard-Töne verleihen dem empfindsam-idyllischen "Endless Supply" einen märchenhaften Anstrich 

und das langsam vorbeiziehende Chanson "Cronulla Breakdown" transportiert eine Form von Lagerfeuerromantik, die nicht ins Beliebige abgleitet.


Eine intim-dezente Ausstrahlung trägt dazu bei, dass man bei allen Liedern automatisch innehält und über den eigenen Standpunkt im Leben nachdenkt. Die durchaus auch durch Probleme belasteten Texte begleiten einen dabei nicht durch ein Jammertal, sondern zeigen meistens einen aussichtsreichen Weg auf, der hinaus aus der Besinnlichkeit führt. Jeder Song ist für sich allein genommen ein funkelndes Juwel aus der Schatzkiste eines Komponisten, der meisterlich auf der Klaviatur der menschlichen Emotionen spielen kann.

"Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar", heißt es in "Der kleine Prinz" von Antoine de Saint-Exupéry. Aber über die Ohren kann man "das Wesentliche" ebenso wahrnehmen. Nämlich durch Schwingungen, die die Seele berühren und das Herz erwärmen, die Kraft spenden, Verbundenheit aufbauen und eine eigene Welt erschaffen können. Joe Pernice hat dieses Prinzip verstanden. Die Kompositionen entfachen Lebensgefühle, bei denen der Himmel voller Geigen hängt, Hoffnungen und Wünsche emotional überquellen oder Enttäuschungen am Selbstwertgefühl nagen. Dieser Themen-Komplex symbolisiert ein Dasein zwischen Überschwang und Niedergeschlagenheit, wobei die Hoffnung zuletzt in der Gewissheit stirbt, dass die Welt wahrscheinlich nicht untergehen wird.

Die abgedroschene Phrase von der Musik als universelle Sprache bekommt hier neue Nahrung, weil sich Authentizität über die verwendete Sprache hinweg überträgt und "The World Won`t End" deshalb überall intuitiv verstanden werden kann. Das Album beherbergt präzise auskomponierte Lieder, die auf einen reizvoll-vielversprechenden Charme zurückgreifen können. Es gibt keinen Ausfall unter den Songs und hat man sich erst einmal auf das überwiegend bittersüße, von sinnlichen Momenten durchzogene Konzept eingelassen, dann gibt es auch kein Entrinnen mehr. Die Stücke setzen sich in den Gehörgängen fest und materialisieren sich als Ohrwürmer. Sie fungieren jedoch nicht als Manifest des Bekannten, sondern eröffnen einen Ausblick auf etwas Größeres als das Gewöhnliche, weil sie direkt die Stimme des Verstandes und des Herzens ansprechen.

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