Karl die Große - Aufgehoben (2025)

Einfühlsam-kritische, deutschsprachige Prosa und bitter-süße oder rhythmisch-belebte Musik - sowas bietet Karl die Große. 

Es ist gesellschaftlich und privat einiges passiert, seit "Was wenn keiner lacht", das letzte Album der Gruppe Karl die Große aus Leipzig im Jahr 2021 veröffentlicht wurde. Dreh- und Angelpunkt des Geschehens bildet nach wie vor Wencke Wollny, die für die meisten Kompositionen, einen Teil der Produktion, den Lead-Gesang und eine instrumentelle Begleitung an Gitarren, Klarinetten, Keyboards und Querflöte zuständig ist. Ihr zur Seite stehen Musikerinnen und Musiker, deren Namen schon von "Was wenn keiner lacht" bekannt sind. Und zahlreiche Gäste runden durch ihre schöpferische Individualität das Gesamtklangbild noch würzig ab.

Credit: Tobias Schütze

"Meiner Meinung nach stehen wir persönlich, im engen Bekanntenkreis und aber auch gesellschaftlich vor einer Entscheidung: Das Risiko eingehen, sich offen und verletzlich zu zeigen, um das Vertrauen ineinander zu stärken ODER Macht schüren und ausüben, um sich in vermeintlicher Sicherheit wiegen zu können und sich selbst und alles, was unangenehm ist, nicht spüren zu müssen. Dabei gehen oft Menschlichkeit und Empathie verloren und wir haben es mit Machtmissbrauch und Willkür zu tun", gibt Wencke zu Protokoll und umschreibt damit schon einmal grob das inhaltliche und emotionale Gerüst, mit dem wir es bei "Aufgehoben" zu tun bekommen.

Karl die Große liebt das Spiel mit sprachlicher Doppeldeutigkeit. So kann "Aufgehoben", die Vergangenheitsform des Verbs "aufheben" für das Einsammeln oder Hochnehmen von Dingen oder Personen, die am Boden liegen, aber auch für das Behüten oder Bewahren verwendet werden. "Aufgehoben" wird auch benutzt, wenn Regeln, Urteile oder Gesetze für ungültig erklärt werden.

Zart und sanft - vorsichtig die Lage peilend, umweht "Zielloses Blatt im Wind" als kammermusikalische Folklore getarnt, die Gehörgänge. Dieser moderne "Minnegesang" besticht durch intime Harmonie und ein liebevolles Zusammenspiel von Klarinette und Gesang, bei dem Stimme und Instrument auf fantasievollen Gleichklang aus sind. Und als man sich von dieser wohligen Stimmung vollständig mitgenommen und eingehüllt fühlt, gibt es gegen Ende des Liedes noch einen Abschnitt, der durch ein gemäßigtes Aufbäumen den Raum voluminös füllt. Es ist sehr unterhaltsam und anregend, wenn Songs nicht berechenbar ablaufen! Der Text bezieht sich im Grunde genommen darauf, dass das Schicksal kaum planbar ist und eine flexible Anpassung an neue Gegebenheiten im Prinzip gut für die innere Balance und die Bildung von Widerstandskräften gegen die Wechselfälle des Lebens ist.

Die klugen lyrischen Ausführungen von Wencke Wollny lassen oft Raum für Interpretationen: "Runterkommen" mag von einer Person handeln, die es weit gebracht und einen hohen Bekanntheitsgrad erreicht hat. Deshalb steht sie unter Dampf, um diesen Status zu halten, findet aber dadurch keinen Weg zurück zum inneren Frieden. Minimalistisch-stoische Rhythmen, die nicht stumpf hämmern, sondern auf subtile Weise suggestiv wirken, bilden die Basis des Stückes, das alleine deshalb aus dem herkömmlichen Pop-Rahmen fällt, obwohl es sehr eingängig ist.

Apropos hypnotische Minimalistik: Die Musikerinnen und Musiker scheinen sich aktuell mit dem Minimal-Art-Werk von Steve Reich auseinandergesetzt zu haben, denn später bezieht das kurze "Schwere Kindheit" stoische, wehend-mysteriöse Chor-Zitate dieses Künstlers in den Ablauf mit ein. Wer eine schwere Kindheit hatte und sich trotzdem im Leben behauptet, sollte nicht die Gescheiterten verhöhnen ("Wer untergeht, ist zu plump. Wer nicht überlebt, ist zu schwach. Wer untergeht, ist zu dumm. Merkst Du eigentlich, dass Du als einziger lachst?"), denn wer weiß schon, wie es wirklich in jedem von uns aussieht. Darauf macht dieses kurze Lied inhaltlich aufmerksam.


In dem Intermezzo "70 qm" wird eine Luxus-Lebens-Situation geschildert, die als selbstverständlich, aber nicht befriedigend wahrgenommen wird. Der klatschende Takt gibt einen unruhigen und stressigen Tagesrhythmus wider. Dieser Eindruck wird von der stolpernden Melodik noch verstärkt.

Ohne Pause schließt sich "In Raketen durch die Nacht" an, ein Track über den Zwang zur Selbstoptimierung, was die Sucht nach Erfolg und den Hang zur Selbstüberschätzung einschließt. Der Song vermengt treibende und sphärische Töne zu einem Abbild der textlich skizzierten getriebenen und wahrscheinlich psychisch ausgelaugten Persönlichkeit.

Die an manchen Stellen von Leid geprüfte Folk-Tronic-Ballade "Dreh Dich nicht um" beginnt mit einem Verweis auf die Bibel: "Dreh Dich nicht um, hinter Dir Asche und Glut. Egal was Du jetzt noch tust, es ist zu spät. Selbst wenn der Wind noch dreht." Zumindest kann man diesen Satz als Anspielung auf die Vernichtung von Sodom deuten, als Lot angewiesen wurde, sich nach dem Verlassen der Stadt nicht umzudrehen. Mit einem Gefühl der Entwurzelung und der Reue hat die Hauptperson des Songs zu kämpfen. Das trifft sie hart. Die Konsequenz ist eine "Sehnsuchtsflucht" und eine Abschottungsreaktion. Die Schilderung der Flucht in eine dunkle Gefühlswelt wird eindringlich durch die sonor-morbide Sprech- und Sing-Duett-Stimme von Gerd Baumann (Dreiviertelblut) vertieft, die sich im Verlauf auch mal vertraut mit Wencke Wollnys klarem, jedoch 
erschöpft wirkendem Gesang vereint.

Beim melancholisch veranlagten "Bau nicht auf mich" werden Minderwertigkeitskomplexe in Noten gepresst, denn es heißt weiter: "Ich bin ein wackliges Gerüst". Der Partner lässt sich aber nicht in seiner Liebe beirren: "Wenn Du mich lässt, geb ich Dir Halt", entgegnet er. Sakrale Klänge treffen auf folkloristische Töne, die sich empfindsam und durchlässig anhören.

Die leiernd-jaulenden Keyboard-Einwürfe 
bei "Linien aus Kreide" könnten auch von David Sylvians "Brilliant Trees" stammen. Eigenwillig, bizarr und seltsam sind auch die Percussion-Beigaben ausgefallen und erinnern dadurch an einige Songs auf "Swordfishtrombones" von Tom Waits. Zumindest lebt die Komposition von experimentell-exotischen Klängen, die gekonnt in den nachdenklichen Art-Pop integriert wurden. Zukunftsweisend!

Niemand blamiert sich gerne oder gesteht sich ein, etwas nicht zu schaffen. Schon gar nicht bei der Arbeit. In "Zerquetschte Tomaten" versteckt der Protagonist seine Unsicherheiten hinter einem nervösen Lächeln oder Angeberei. "Dabei hatte er als Kind die schönsten Worte, um seine Angst zu beschreiben. Doch ihm fehlten Werkzeuge, um ihren Kummer zu vertreiben." Das Kollektiv erzeugt eine tiefsinnige, unter die Haut gehende Atmosphäre, die von einer starken Melodie unterstützt wird und durch attraktive Schlenker Ohrwurmqualitäten erzielt.

"Ein Blick" trägt den Untertitel "Dabei hab ich doch versucht, mich in Luft aufzulösen". Und darum geht es: Ein Paar versteht sich nicht mehr. Sie geht ihm auf die Nerven, obwohl sie meint, viel in die Beziehung investiert zu haben ("Hab mich verbogen, verzichtet, Du mich verurteilt, gerichtet, wie ein Tier, das Dir irgendwie schadet.)" Dieser auf seine wesentlichen Bestandteile komprimierte cremige Power-Pop punktet mit einem raffiniert strukturierten Verlauf und steht seinem Vorgänger "Zerquetschte Tomaten" in Sachen Hit-Potential in nichts nach.

Für "Hinlegen" verwandelt sich das grundsätzlich blauschwarz schimmernde Klangbild in eine zähe Trip-Hop-Masse, die eine beinahe betäubende Wirkung entfaltet. Spielt sich da grade eine ausweglose Situation ab? "Wäre die Stadt gepflastert von Menschen, wenn alle zugeben dürften und könnten: "Ich kann nicht mehr", heißt es da. Ein schöngeistiges, gedankenverlorenes, die Tränen erstickendes Posaunen-Solo holt das Stück am Ende aus seiner Lethargie heraus, verheißt aber trotzdem keine Hoffnung.

Bei "Vom Sonnendeck" übernimmt Max Prosa mit seinem mahnenden Gesang zunächst das Ruder in diesem dramatisch aufgebauten, unterschwellig befeuerten Jazz-Pop. Wencke bringt sich stimmlich nach einiger Zeit in diese nervös drängende Stimmung ein, um mit Max im Duett ihre Aussagen zusammenzuschweißen. Es herrscht Verwirrung, was ist auf dem Schiff passiert: "Und in den Lautsprechern herrscht Chaos, darin überlagern sich zwei Stimmen, die eine sagt, es gab kein Feuer, die andere sucht den Schuldigen." Haben sich die Kapitäne ihrer Verantwortung entzogen, während die Passagiere auf dem Sonnendeck grenzenloses Vertrauen in einen reibungslosen Ablauf legten? Und es zeigt sich wieder einmal: In der unmittelbaren Gefahr sind letztlich alle gleich, unabhängig vom Einsatz. Absolute Sicherheit kann man nicht kaufen.

Berichterstattungen und Schlagworte begleiten das extravagante Lied "Voyager" und sorgen für audiovisuelle Illusionen, welche 
Dreidimensionalität simulieren. Das sollte man öfter hören, um alle Zusammenhänge und Parolen erkennen zu können. Imponierend!

Karl die Große bemühen sich, Vielseitigkeit zu demonstrieren. "Niemals Fame" saugt seine Inspirationen aus dem Hip-Hop-Genre und wirkt textlich wie auch musikalisch in dem ansonsten von Singer-Songwriter-Erfahrungen geprägten Umfeld wie ein Fremdkörper.


Karl die Große ist spätestens mit "Aufgehoben" als wertbeständiger Bestandteil der zeitgenössischen Pop-Chanson-Szene nicht mehr wegzudenken. Sie reihen sich mit "Aufgehoben" endgültig neben solchen Künstlergruppierungen wie etwa DOTA, Die Höchste Eisenbahn, Balbina oder Mine in die erste Reihe der stilvoll-interessanten deutschsprachigen Musiker ein, bei denen sowohl das Liedgut als auch die Texte nicht nur wichtig und prägnant, sondern auch geistreich und nicht selten provokant sind. Sie sind eben in keinem Marketing-Labor aufgrund einer prognostizierten Publikumserwartungshaltung oder hinsichtlich Meinungs-Trends entstanden. Bei "Aufgehoben" ist man auf jeden Fall gut aufgehoben, wenn man deutschsprachige Unterhaltungs-Musik jenseits des Mainstreams sucht.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Ensign Broderick - Come Down + Mirror Ring (2025)

Lost & Found: Songs To The Siren „2019“: Das Erbe von Tim Buckley und The Velvet Underground wird am Niederrhein betreut.

Waiting For Louise - Rain Meditation (2023)