Andrea Laszlo De Simone - Una Lunghissima Ombra (2025)

Jedes Leben wirft lange Schatten, Andrea Laszlo De Simone vertont diesen Tatbestand.

Wer sich hauptsächlich mit anglo-amerikanischer Pop-Musik beschäftigt, wird beim Hören von "Una Lunghissima Ombra" des Turiner Künstlers Andrea Laszlo De Simone eine abweichende Ästhetik erkennen. Statt klarer Strukturen gibt es vielfach verwischte Linien und emotionale Sprünge in einem Stück. Es gibt keine Hemmungen vor der Verbreitung von tollkühnen Tönen und Kitsch oder pathetisch-theatralisch oder sentimental zur Schau gestellten Gefühlen. Und Genregrenzen existieren erst recht nicht. Mit anderen Worten: Das Werk "Una Lunghissima Ombra" (= Ein sehr langer Schatten) schöpft aus historischen und aktuellen Musik-Quellen, bindet cineastische neben folkloristischen Strukturen ab und kümmert sich wenig um korrekte Zitate, sondern findet eine eigentümliche Form, die konsequent durchgehalten wird.


Credit: Richard Dumas

"Una Lunghissima Ombra" ist ein audiovisuelles Projekt, in dem ich versucht habe, aufdringliche Gedanken ans Licht zu bringen – jene, die ständig in uns präsent sind, auch wenn wir gerade an etwas anderes denken, und die am Ende lange Schatten über unsere Existenz werfen. Um dies zu tun, habe ich eine einfache Metapher benutzt – den Prozess der Schattenbildung. Ich habe mich entschieden, einen Lichtpunkt durch feste Einstellungen der Realität darzustellen, ein Objekt durch die Texte der Lieder und die Schatten durch die Musik. Warum habe ich das getan? Wegen meiner eigenen Schatten, fürchte ich", sagt der Tausendsassa über sein Konzept zum Album.

Für die instrumentale Ouvertüre "Il buio" (= Die Dunkelheit) steigen dissonante E-Gitarren-Schreie und laute, verwirrt erscheinende Schlagzeugsalven wie aus einem Nebel ans Licht. Nachdem dieses Tongewitter abgeebbt ist, bauen sich sphärische Klänge als Wand auf, die von einem Knurren, Zerren und Dröhnen unterwandert werden.

"Ricordo tattile" (= Taktile (also vom Tastsinn ausgehende) Erinnerung) führt die Einleitung fort, indem Streicherklänge den Song in eine Stimmung wiegen, die Vertrauen schaffen und besänftigen soll. Der parallel einsetzende, um Freundlichkeit bemühte Gesang von Andrea klingt in Verbindung mit einer vom Barock inspirierten Umgebung und dem Text, der lyrisch die Eigenschaften von Fingern und Augen preist, wie ein dankbares Gebet. Am Ende des Tracks steigt dann allerdings durch unheilvolle elektronische Schwingungen Angst im Nacken hoch. Das Schicksal kann schließlich unbarmherzig sein.

In dem choreografisch und kompositorisch anregend durchgeplanten Ablauf folgt "Neon", das erste von vier weiteren wortlosen Intermezzi, das eine Minute lang bedrohliche Industrial-Sounds präsentiert.

Mit "La notte" (= Die Nacht) wird es überraschenderweise romantisch-beschwingt, nicht unheimlich-bedrückend, wie man bei dem Titel genauso vermuten könnte. Inhaltlich wird die Nacht als geeignete Tageszeit, um sich zu verlieben, gepriesen. Aber auch das Verlassen werden wird thematisiert - auch wenn sich die Musik in weiten Teilen eher nach "La Dolce Vita" (= Das süße Leben) anhört.

Andrea bekennt sich in "Colpevole" (= Schuldig) schuldig. Aus welchem Grund, wird nicht erläutert, bleibt poetisch verschleiert. Der leicht verfremdete, traurige Gesang hinterlässt anfangs einen brüchigen Eindruck, als wäre er nicht direkt, sondern über ein entferntes Übertragungsmedium, wie ein altes Telefon, übermittelt worden. Eine sanfte Melancholie umspielt die um Harmonie bemühten Noten, sodass eine Atmosphäre der betäubten Realität hergestellt wird. "Colpevole" hört mit bewussten, tiefen Atemgeräuschen auf.

Und "Quando" (= Wann) fängt damit an. Mandolinen-Klirren mischt sich in dieses Geräusch ein und übernimmt die Führung. Eine verunsicherte Stimme, die unter dem Eindruck einer schlechten Nachricht zu stehen scheint, gibt dann den Ton an. Arrangements, die sich zwischen Klassik und Folklore bewegen, gestalten den nachfolgenden Ablauf. Die Schuldfrage in einer schwierigen Beziehung stellt den Inhalt des Liedes dar: "Es ist die Schuld des Atems. Zerbrechlich. Wie ich. Wenn ich so viel leide, aber am Leben bin. Es ist die Schuld des Mundes. Dumm. Wie ich. Und dein Körper berührt ihn." Mangelndes Verständnis wird letztlich als Hinderungsgrund für eine Versöhnung ausgemacht.


Aus "Aspetterò" (= Ich warte) spricht inhaltlich eine gewisse Desillusionierung oder Gleichgültigkeit: "Dass ich, wenn ich noch lebe, nur deshalb lebe, weil ich eine Sache verstanden habe: Dass das Leben ein langes Warten ist." Die Musik transportiert als Kontrast dazu eine schlagerhafte Leichtigkeit, die nicht unbedingt erwartet wird und deshalb beim ersten Durchlauf verstörend wirkt, später aber im Gesamtkonzept als Abwechselung durchaus Sinn ergibt. Da ist es wieder, das intellektuelle "Dolce-Vita-Feeling".

Wird in einem Lied gepfiffen, so ist das häufig ein Ausdruck von Fröhlichkeit und ausgelassener Stimmung. Bei "Per te" (= Für Dich) wird reichlich davon Gebrauch gemacht, sodass der Track alleine deshalb als gut gelaunt bezeichnet werden kann, auch wenn er nicht euphorisch überschäumt. Jedoch ist der Song eine Liebeserklärung an ein Kind ("Was würde ich für dich tun? Ich würde alles tun"), weshalb der überschwängliche, in eine leichte Muse getauchte Gefühlsausbruch nachvollziehbar ist und als Symbol für den Sinn des Lebens und den Glauben an die Zukunft verstanden werden will.

Die Person in "Un momento migliore" (= Ein besserer Moment) meint, sie habe alles verloren, was in ihrem Leben liebenswert war und hat deshalb beinahe keine Hoffnung mehr ("Ich will nicht an die Zukunft denken, denn ich bin mir fast sicher, dass ich immer Fehler machen werde"). Die einladende Stimme, die zärtliche Melodie und die beschwichtigende instrumentale Ausgestaltung vermitteln in einer Mischung aus "Bitter Sweet Symphonie" (von The Verve) und "Eleanor Rigby" (von The Beatles) Trost, können den Schmerz aber nicht gänzlich vertreiben.

"Diffrazione" (= Beugung) stellt einen kurzen, sphärisch rauschenden Übergang zu "Pienamente" dar.

Die erzählende Person in "Pienamente" (= Vollständig) hat Frieden mit dem Dasein geschlossen: "Und ich lebe voll und ganz. Im Griff der Emotionen. Und ich habe keine Angst mehr. Jetzt fürchte ich nichts mehr". Diese Einstellung wird in eine vollmundig tönende, sehnsuchtsvolle Ballade eingebunden, die ergreifend, aber nicht süßlich überzogen klingt.

Die packend-bewegende, ausschweifende Emotionsoffensive setzt sich mit "Planando sui raggi del sole" (= Auf den Sonnenstrahlen gleiten) fort. Das Lied suhlt sich in herbstlicher Tristesse, lässt dazu Streicher leise weinen, wogt bildhaft wellenartig wie in aufgewühlter See und bietet hierfür orchestrale Fülle auf. De Simone verliert sich danach in jazzig-improvisatorischen Fantasien, die in einem überfüllten, rauchigen Kellergewölbe entstanden sein könnten. Und alle diese Eindrücke werden in unter sechs Minuten untergebracht und intensiv verarbeitet.


Die nachdenklich-verträumte Einlage "Spiragli" (= Spalten) 
bereitet danach behutsam auf den Trip-Hop von "Quello che ero una volta" (= Was ich einmal war) vor, der schnelle, künstliche Takte auf langsame Streicher- und Keyboard-Arrangements prallen lässt. Diese sich widersprechende Zerrissenheit hat einen Grund, denn in der Poesie heißt es: "Ein ungelöstes Problem. Das zwingt mich, Fehler zu machen. Und es gibt nichts Schlimmeres."

"Rifrazione" (= Brechung) hält über eineinhalb Minuten langgezogene, sakrale Orgeltöne bereit
und das sich nahtlos anschließende "Non è reale" (= Es ist nicht real) mischt Minimal-Art-Effekte aus der Electronic-Dance-Music und muntere Modern-Classic-Noten zu einem hypnotischen Track, der bleiern und versunken ausklingt. Dazu passen die philosophisch-tiefschürfenden Zeilen: "Was wir über uns selbst wissen. Was uns erleuchtet. Was uns antreibt. Was uns dominiert. Es ist nicht real."

Das Titelstück "Una lunghissima Ombra" (= Ein sehr langer Schatten) klingt versöhnlich, wie der Abspann eines spannenden Films, der überraschenderweise ein Happy End hat.

Die Beschreibung
von "Una Lunghissima Ombraals audiovisuelles Projekt ist keine theoretische Behauptung, denn es existiert ein Video, das aus zwölf einzelnen Kameraeinstellungen besteht - jedes Stück wird durch eine Darstellung symbolisiert. Diese Installation enthält jedoch keine Musik.

Das Album schlingert in der ersten Hälfte zwischen Kitsch und Kunst hin und her und vermittelt in der zweiten Hälfte mehr Ernsthaftigkeit als Lebensfreude. Um die Platte in Gänze honorieren zu können, bedarf es also eines breiten Spektrums an klanglichen Erfahrungen und Toleranzen gegenüber Randgebieten und Mainstream-Strömungen in der Musik. Dann offenbart sich ein ambitioniertes Album, das auf Vielfalt und Erstaunen setzt und dabei zum Nachdenken über das eigene Dasein anregt. Andrea Laszlo De Simone ist ein eigenwilliger Künstler. Ein Querdenker im besten Sinne, der versucht, sich seine Themen aus der Vogelperspektive zu betrachten, um unabhängig alle Facetten und Verbindungen erkennen zu können. Mit dieser Methode ist er auf die Formulierung der "aufdringlichen Gedanken" gekommen. Darunter versteht er "informelle Gedanken, die scheinbar einfach durch uns hindurchgehen, uns aber letztendlich ausmachen. Es ist die Beschreibung einer Blase, in der wir uns selbst marginalisieren und gleichzeitig die Realität emotional verarbeiten. Ein Merkmal aufdringlicher Gedanken ist ihre fehlende Formalisierung, daher sind die Texte meist improvisiert, eine Methode, die ich schon seit einiger Zeit verwende", wie er dem italienischen Rolling Stone verriet.

Alleine dadurch hebt sich der Italiener von einem kommerziellen Massenprodukt ab. Die außergewöhnliche Musik unterstreicht seine unabhängige Weltsicht. Chapeau!

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