Josienne Clarke - Far From Nowhere (2025)

Josienne Clarke schickt sich an, die "Nachfolge" von Sandy Denny und Linda Thompson anzutreten.

Mit "Onliness (Songs Of Solitude And Singularity)" gewann Josienne Clarke im Jahr 2023 nach über 10 Jahren in Abhängigkeit von vertraglichen Vermarktungszwängen die Kontrolle über ihre Veröffentlichungen und ihre Karriere zurück. Mit "Far From Nowhere" hat sie nun noch einen weiteren Weg heraus aus den einengenden Vorgaben und Erwartungen der Musik-Branche gefunden: "Musik zu machen fühlt sich für mich heute oft wie ein Akt des Rückzugs an. Die Struktur der Branche erstickt nach und nach den Spirit der Künstler und Künstlerinnen, raubt ihnen das Selbstwertgefühl, das aus einer fairen Bezahlung für gute Arbeit erwächst – da war es nur folgerichtig, mich in eine Hütte im Wald zurückzuziehen, um dieses Album aufzunehmen."

Übrigens: Das Video "Deluded" bietet einen Einblick in die entspannte Aufnahme-Atmosphäre von "Far From Nowhere" anClarke begibt sich gemeinsam mit ihrem Co-Produzenten Murray Collier zurück zu ihren Folk-Wurzeln, sammelt sich, um das authentisch herauslassen zu können, was sie innerlich bewegt, und reduziert ihre Songwriter-Aktivitäten auf die Essenz ihrer Kunst: Melodien, die im Gedächtnis bleiben, verbunden mit einem ausdrucksstarken Gesang, der Textinhalte und Emotionen zusammenbringt. Und nicht zuletzt erzeugt sie noch ein Quäntchen Magie, das für ein Alleinstellungsmerkmal verantwortlich ist.

Credit: Alec Bowman Clarke

Das zwölfte Studioalbum "Far From Nowhere" ist also fast komplett anders als "Onliness (Songs Of Solitude And Singularity)", der schillernd-optimistische Neuanfang aus 2023. Andächtig-spirituelle Folklore spielt sich während der viereinhalb Minuten von "We’re Never Coming Back" in einem Rahmen ab, in dem das Verrinnen von Zeit zur Nebensache wird. Man hört eine sich unbeholfen anhörende Akustik-Gitarre, wie sie ähnlich von Leonard Cohen für seine sparsam-intimen Songs als Begleitung ersonnen wurde. Zusätzlich gibt es Gesangsbeiträge, die von heiliger Erleuchtung geprägt zu sein scheinen. Sie werden oft gedoppelt eingesetzt und bestimmen maßgeblich das sakrale Muster des Songs. Dieses Klangbild wird nur noch von einem kaum merklichen Hintergrundsummen aufgefüllt, welches die feierlich-gedankenverlorene Stimmung aber nicht stört, sondern tonal unterfüttert. Josienne beobachtet bei "We’re Never Coming Back" die Natur in vielen Facetten und kommt zu dem Schluss: "Wir sind Atome. Wir sind Staub. Wir sind der winzige Funke, der ein ganzes Feuer entzündet. Wir sind nichts. Das ist alles, was es gibt. Wir kommen nie wieder zurück."

Mit "What Do I Do" hellt sich die Stimmung auf. Clarke lässt ihre Stimme punktuell sogar beinahe euphorisch erklingen, was auch mit der befreienden Erkenntnis zur neu gewonnenen Eigenständigkeit zu tun haben mag ("Alle meine Gedanken sind meine eigenen, wenn ich nicht mehr versuche, der zu sein, den du willst"). Der sich hinsichtlich der Lautstärke zurückhaltende Rhythmus wirkt trotzdem durch seine Monotonie besitzergreifend. Er drückt eine überlegene Kraft aus, als befände er sich an der Schwelle zur aggressiv hervorstechenden Machtergreifung. Allerdings deutet er seine unnachgiebige Stärke nur an, ohne sich dominant zu verzetteln und zerstörerisch zu wirken.

Mystisch-beschwörend begibt sich der transparent-sparsam ausgestattete Folk-Song "Tiny Bird’s Lament" offensiv auf Minimal-Art-Music-Gebiet und erinnert dadurch auch an manche Stücke von Nick Drake. Josienne Clark stellt eine Verbindung zwischen dem Grauen, welches ein Vogel erleiden muss, wenn er von einer Katze gefangen wird, mit dem, was sie (oder die Protagonistin im Song) erfahren musste ("So wie eine Katze einen winzigen Vogel fangen kann. Wie sich die Knochen zwischen den Fingern anfühlen. Flatternde Zerbrechlichkeit all des Lebens, das du stehlen könntest".)

"In The Dark Of The Night" erklärt seinen klanglich unspektakulären Ablauf zum besonderen, unerwarteten Ereignis und erlangt dadurch eine Entschleunigung, die im Nachhinein als angenehm, beruhigend, hochsensibel und willkommen wahrgenommen wird. Josienne erklärt, wie sie diesen feinsinnigen, suggestiven Effekt hinbekommen hat: "Es klang schön, war aber etwas zu hektisch für die beruhigende Wirkung, die ich mit diesem Song erreichen wollte. Also haben Murray und ich dieses Gitarrenriff auseinandergebaut und auf verschiedene Instrumente verteilt. Er legte die Basslinie der Gitarre auf den Synthesizer, was sofort wunderbar klang, und ich spielte den oberen Teil auf der E-Gitarre, die wir mit einem langen, traumhaften Reverb versehen haben. Dadurch entstand dieser schöne Mittelraum für das sanft gezupfte Akustikgitarrenmotiv. Mir war klar, dass ich eine Art weichen, herzschlagähnlichen Bass-Drum-Sound haben wollte, und Murray wies völlig richtig darauf hin, dass anstelle einer Snare etwas Leichtes gebraucht würde – also hat der Song nun dieses helle Tambourin, das in weiter Ferne klingt".

Eine spezielle, lebendig-räumliche Field-Recording-Atmosphäre taucht das poetisch anregende "Dreams Of Sleep" 
und die in unbekannte und unheimliche Gefilde vordringende "The Madler Horror Story" in Tongebilde, die sich zwar nicht von ihrem als dunkle Wolke durch die Songs wabernden Schwermut befreien können, aber dennoch hoffnungsvoll-zielgerichtet erscheinen.
Weniger ist hier mehr, die Stille und die Durchlässigkeit der Noten sind zwei zusätzliche Instrumente, die für eine Steigerung der Empfindsamkeit sorgen.

Wer als Solist, der sich nur selbst begleitet, überzeugend bestehen kann, hat wahrlich Format. Josienne Clarke präsentiert diese Tugend bei "The Sucker Of Struggle" 
und "Afternoon Shadow" eindrucksvoll. Man hört nur ihre traurig fließende Stimme und eine mehr oder weniger ermutigend gezupfte akustische Gitarre, bei der auch rhythmisch aktive Akkorde angeschlagen werden. In beiden Fällen wurde ein besonders intimer, zerbrechlicher Moment eingefangen, bei dem kleinere Fehler belassen wurden, welche die spröde Melancholie noch glaubwürdiger erscheinen lassen.

"AI Love You" ist eine Übung in Langsamkeit. Ein Slow-Core-Folk-Rock mit träger Drum-Machine und meditativer Wirkung. Er fällt nicht stupide aus, weil er seine melodische Raffinesse für eine liebliche Ausschmückung nutzt. Kann "Künstliche Intelligenz" die Kunst ersetzen? Kann sie jemals überzeugender Gefühle darstellen als es Menschen gelingt? "Ich habe einen Algorithmus in meinem Gehirn entwickelt, genannt Vorstellungskraft, und berechne, basierend auf dem, was ich weiß und beobachte, was ein Computer an menschlichen Lovesongs einfallen könnte." Diese Eigenschaft setzt Josienne Clarke angeblich schon ein, was wahrscheinlich satirisch gemeint ist.

Das Album ist von Erinnerungen an Folk-Rock-Ikonen wie Sandy Denny, Jacqui McShee (von Pentangle) oder Linda Thompson geprägt und durchzogen. Diese respektvolle Näherung tritt besonders bei den romantisch-traditionell geprägten, aber dennoch individuell gestalteten Songs wie "Bushes, Briars & Thorns" 
und "Ssanna", bei denen der Gesang in den Vordergrund gemixt wurde, zutage.

Ein gemächliches Hintergrundschwirren einer psychedelisch-sphärischen Slide-E-Gitarre lässt "Underdog" im Übrigen wie ein Relikt aus der Hippie-Folk-Ära der End-1960er-Jahre klingen und an die Aufbruchsstimmung von "Onliness (Songs Of Solitude And Singularity)" denken.

Josienne lässt für "A Slow Burn" die E-Gitarre zurückhaltend-intim erklingen und füllt den Raum neben ihrem betörenden Gesang nur noch mit einem sanften, an Streichinstrumente erinnernden Säuseln auf. "Das Leise ist das neue Laut" war ein Slogan des norwegischen Folk-Pop-Duos Kings Of Convenience, das zu einer kurzen Renaissance von akustischer Pop-Musik führte. Dieses Etikett trifft auch auf "A Slow Burn" zu.

Wie schon erwähnt: "Far From Nowhere" vermittelt einen intimen, nach Bestätigung und zukünftiger Ausrichtung suchenden Charakter. Es ist demnach ein Übergangsalbum, das immens wichtig für die weitere Laufbahn der 1982 geborenen britischen Musikerin werden kann. Wer sich auf diese teilweise erschütternde, mystisch-vernebelte Stimmung einlässt, wird mit einem innigen, beinahe spirituellen Erlebnis belohnt. Josienne Clarke hat mit "Far From Nowhere" quasi ihr persönliches "Nebraska" (Bruce Springsteen) erschaffen. Ein emotionales Sprungbrett, das zum Innehalten und zum Energie aufladen taugt!

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