Josienne Clarke - Onliness (Songs Of Solitude And Singularity)

Aus Alt mach Neu: "Onliness" enthält frisch aufgearbeitetes, bewährtes Material von Josienne Clarke.

"Die Kontrolle zu haben, war eine beängstigende, aber letztendlich befreiende Erfahrung", beschreibt Josienne Clarke ihre kommerzielle Situation, denn seit der Veröffentlichung ihres 2021er Albums "A Small Unknowable Thing" besitzt die Britin nach zehn Jahren im Tonträger-Geschäft endlich die komplette Einflussnahme über die Vermarktung ihrer Musik. In diesem Zusammenhang hat sie darüber nachgedacht, ihre älteren Werke neu einzuspielen - so wie es schon Taylor Swift tat. Aus dieser Perspektive heraus ist dann "Onliness" entstanden.
Credit: Alec Bowman-Clarke

"Onliness" wurde in folgender Besetzung verwirklicht: Josienne Clarke (Gesang, Gitarre, Piano ("The Birds"), Saxophon), Matt Robinson (Keyboards), Dave Hamblett (Schlagzeug), Alec Bowman-Clarke (Bass) und Mary Ann Kennedy (Harfe). Die neuen Einspielungen sind tendenziell durchlässig-transparenter als die Originale. Es hat den Anschein, als hätte die Musikerin die spirituelle Bedeutung der Lieder jetzt erst vollständig durchdrungen, das Wesen abschließend kennengelernt und bis in die letzte Note hinein auf ihre Empfindungen hin abgestimmt.

Psychedelischer Country-Folk mit sphärisch-filigranen Jazz-Verweisen, die Bewusstseinserweiterung versprechen - wie sie zum Beispiel gerne von David Crosby verwendet wurden - sind bei "The Tangled Tree" tonangebend. Die Neuauflage des Songs ist noch sinnlich-ergreifender ausgefallen als das Original, das Josienne 2014 mit ihrem langjährigen Partner Ben Walker aufgenommen hatte - und das war schon großartig.
Warme, eindimensionale Bläser-Töne, die wie akustische Teppiche wirken, bilden den Einstieg und die Grundlage für "Only Me Only". Glitzernde Keyboard-Akkorde, ein den Schwebezustand ausfüllender Bass und ein aufmerksames, aber zurückhaltendes Schlagzeug bestimmen den Ablauf und der dazugehörende, alles umsäumende Gesang ist unaufgeregt, konzentriert und klar. Fertig ist ein Art-Folk-Jazz-Pop, der in kein Schema passt, aber nicht mehr aus dem Kopf gehen will.

"It Would Not Be A Rose" beherbergt ein Rätsel. Das, um was es geht, wird umschrieben, aber nicht genannt: "Und wenn es ein Lied wäre. Wäre es gesungen mit einer langsamen und klagenden Melodie. Und wenn es ein Gesicht wäre. Würde es eine Traurigkeit enthalten, die man nicht einordnen kann." Auf diese Weise werden noch Vergleiche mit einem Vogel, einem Baum, einem Zimmer, einem Meer, einem Herz und der Erde formuliert. Aber die Lösung des Rätsels wird nicht verraten. Klar ist nur: Wäre es eine Blume, wäre es keine Rose. Diese fantasievolle Poesie verlangt nach hintergründig-geheimnisvoller Musik: Was als klassischer, nur von akustischer Gitarre begleiteter Folk beginnt, bekommt im Verlauf langsam anschwellende, geisterhafte Schwebeklänge, klagende Chorstimmen, beiläufig hingeworfene Jazz-Percussion und eine grummelnd-zerrende E-Gitarre verordnet. Das ist eine Transformation von schlicht zu extravagant, wenn man so will.

"Ghost Light" beinhaltet einen Satz, den viele Menschen, die sich für Umwelt- und Klimaschutz engagieren, als Motivation unterschreiben würden: "Ich kann es nicht ertragen, die Welt auseinander fallen zu sehen." Dennoch ist "Ghost Light" nicht in erster Linie ein Protestsong gegen die irrsinnige Zerstörung unserer Lebensgrundlage, sondern greift vor allem Beziehungsprobleme auf. Die Musik ist gewissermaßen ein Tribut an den am 25. Februar 2020 verstorbenen David Roback. Der Gründer der Neo-Psychedelischen Bands Opal und Mazzy Star hat mit seinem zerbrechlichen, elektrisch aufgeladenen und elegischen Sound für spannende Dream-Pop-Abenteuer gesorgt und damit etliche Musiker beeinflusst. Ihm hätte das seinem Werk nachempfundene "Ghost Light" bestimmt gefallen. 

"Silverline" beschreibt den Wunsch, den Silberstreifen am Horizont zu finden, wenn schwierige Zeiten unerträglich sind. Die dafür konzipierte minimalistische Psychedelic-Folk-Rock-Untermalung holt sich ihre Anregungen gerne bei The Velvet Underground ab. 

Wie eine flüchtige Begegnung ist "Bells Ring" schon nach zweieinhalb Minuten wieder vorbei. "Unsere Liebe ist wie Glockenklang, Glockenklang. Süß und traurig. Der Sog der Sehnsucht, Sehnsucht, Sehnsucht. Ist alles was wir haben". Diese Worte werden mit Hilfe einer gleichförmig-suggestiven, sowohl sphärisch-schwelgenden wie auch beweglich-herausfordernden Ambient-Country-Begleitung relativ unberührt verkündet.

Vertraute Situationen geben Sicherheit und sorgen für Wohlbefinden. Aber sie sind vergänglich: "Reflektionen bei Sonnenuntergang können mich so traurig machen. Denn es gibt keine Möglichkeit, den Tag, den wir gerade hatten, zu behalten", lautet der Schlusssatz zu diesem Thema bei "Something Familiar". Das Stück zeigt sich als eine schlichte, charmante Ballade, die eine intime Zwiesprache zwischen einer dezent gepickter E-Gitarre und dem gefühlvollen Gesang beinhaltet.

"The Birds" steht dem Vorgänger hinsichtlich Empfindsamkeit in nichts nach, verfügt aber im direkten Vergleich über einen lebhafteren Schlagzeug-Rhythmus. Josienne Clarke formuliert ihre Gedanken, die zur Gestaltung des Tracks geführt haben, als inspirierende Natur-Beobachtungen: "Der Jahreswechsel, der erste Frost des Winters, seine prickelnde Helligkeit, Melancholie & Sehnsucht. Die Vögel zeichnen seltsame Muster am Himmel, ein Signal dafür, dass unsere Tage bald kurz sein werden. Glasiges Winterlicht, das im Handumdrehen verloren geht, und Dunkelheit, die sich über lange Nächte erstreckt."
Die Honky-Tonk-Romantik von "Homemade Heartache" erinnert hinsichtlich der herzzerreißenden Sentimentalität an die Flying Burrito Brothers um Gram Parsons und ist in diesem Sinne ein gutes Beispiel dafür, warum Parsons die Country-Musik als White Soul bezeichnete.

Für "Chicago" verarbeitet Josienne Erinnerungen an die Anfänge ihrer Karriere: "Es ist nicht Chicagos Schuld, dass niemand kam, um mich spielen zu sehen... Du schließt deinen Frieden mit dem Scheitern, eine frühe Lektion, die du lernst." Diese Erkenntnisse werden von einem bauschigen, disziplinierten Pop mit perlender E-Piano-Eleganz und milder Bläser-Elastizität flankiert.

Der sich mühsam dahinschleppende Garagen-Rock "Things I Didn’t Need" ist ein geeignetes Transportmittel für die Gedanken an ein gebrochenes Herz: "Was hast du mir angetan, was wird das bewirken?" Die E-Gitarre versucht behäbig, mit schweren Tönen die Trümmer der kaputten Beziehung zu beseitigen, das Schlagzeug wird vom verzweifelten zum wütenden Begleiter und die Stimme bemüht sich nach Kräften, Stärke zu zeigen.

Obwohl der Gesang des melodisch-transparenten Folk-Rocks "Bathed In Light" hell und klar ist, sind die Aussagen des Songs von Resignation geprägt: "Ich bin so verängstigt, dass ich nicht tapfer bin".

Eine enttäuschte Liebe führt bei "Anyone But Me" dazu, dass die gekränkte Person ankündigt, sie würde am liebsten jeden Menschen auslöschen, der dem Partner etwas bedeutet hat. Mit "Denn wie kannst du es wagen, jemanden außer mir zu lieben" wird in der maßlosen Verletzung noch eine besitzergreifende Aussage draufgesetzt. Die E-Gitarre schreit die Wut heraus, der Puls des Schlagzeugs rast und die Keyboards malen dunkle Wolken in den Himmel. Der Gesang täuscht indessen vor, die Situation im Griff zu haben.
"I Never Learned French" wurde sehr plastisch und räumlich aufgenommen. Das traurige Klavier klingt, als würde es im Andenken an Nick Drake gespielt worden sein und die Töne scheinen direkt im Nacken zu entstehen. Die Stimme kann im Mundraum lokalisiert werden und das selbstverliebt handelnde Saxophon tummelt sich in der Mitte vom Kopf.

Das in wohlklingender Melancholie badende "Done" wird von einem sensibel begleitenden Piano und sanften Keyboard-Schwaden getragen. In diese Umgebung passt die Beschreibung vom Ende einer Bindung: "Ich habe nach Gold geschürft. Aber nur Zinn gefunden, das im Sonnenlicht glitzert. Jetzt hinterlässt es Schmutz in meinen Händen, wie es nur die Wahrheit kann." Die Enttäuschung ist groß und die Klänge reflektieren die Seelenqual.
Wenn jemand in einer Freundschaft ausgenutzt wird, kann sich diese Person schnell als "Workhorse" fühlen. Und wenn sie das erkannt hat, können Urteile wie: "Ich werde mich lieben. So wie du es solltest" über die Lippen kommen. Diese Zwangs-Lage führt in diesem Fall zu einem Lied, das die Befindlichkeiten in Noten umsetzt, die von Trauer, aber auch von einer geläuterten, zukunftsträchtigen Stimmung durchzogen sind.

"Words Were Never The Answer" ist das einzig neue Stück auf "Onliness". Nur mit akustischer Gitarre vorgetragen, hinterlässt es den Eindruck, dass es später noch eine üppiger arrangierte Version geben könnte. Worte sind nur ein Weg, den universellen Schmerz des einfachen Lebens zu ertragen, philosophiert Josienne nachdenklich über die Aussage des Stückes. "Viele Male habe ich versucht, Leuten Dinge zu erklären, die sie nie verstehen werden, und ich habe gelernt, dass es einen Moment gibt, in dem man aufhören muss zu erklären, zu reden und Worte zu benutzen", ergänzt sie noch ihre Überlegungen zu dem Track.

Mit ihren Worten, Gedanken und Liedern gelingt es der Musikerin, die Zeit für einen Moment anzuhalten, um sich mit der Verletzlichkeit der Seele auseinanderzusetzen. Gegebenenfalls kann man dann befreit daraus hervorgehen: Musik als Therapieansatz - und dann noch so wunderschön verpackt.

Josienne Clarke hat darauf hingewiesen, wie wichtig ihr die Gestaltung der Songs und damit die Verbindung von Tönen und Text ist: "Ich glaube, es geht nicht darum, WAS man schreibt, sondern WIE man es schreibt. In Liedern kann es um winzige alltägliche Momente oder Gedanken gehen, aber in der Interpretation geht es darum, wie man daraus ein fesselndes Gefühl oder eine Geschichte macht. Es reicht nicht aus, einfach "eine Sache" zu beschreiben, man muss etwas damit machen, ein schönes Bild schaffen oder eine Emotion aus der Sache herausholen, über die man schreibt", gestand sie dem sehr informativen Online-Musikmagazin ""Fifteen" Questions". Durch solch eine sensible Vorgehensweise kann einem Lied je nach Arrangement-Verfahren eine völlig andere Wirkung zugesprochen werden.

Neben den kommerziellen Gesichtspunkten gibt es also auch ein kreatives Argument für die Überarbeitung der Songs: "Großartige Songs können eine Vielzahl von Interpretationen tragen und vielleicht ist die Idee einer endgültigen Aufnahme ein bisschen starr und reduzierend. Bonnie Prince Billy hat seine eigenen Kompositionen im Laufe seiner Karriere immer wieder überarbeitet und neu präsentiert... Es ist also keine neue Idee oder eine, die mir exklusiv vorbehalten ist, aber es ist ein viel kreativeres Unterfangen, bei dem der Hörer viel mehr zu gewinnen hat als bei einer konsumgetriebenen "Best Of"‘-Zusammenstellung".

Das Konzept, bekannte Songs noch einmal neu aufzunehmen, hat sich für Josienne Clarke bezahlt gemacht. Ihre Songs haben eine Renovierung erhalten, durch die sie einen individuellen Veredelungs-Prozess durchlaufen haben. Und das will was heißen, wo doch die Vorlagen schon sehr niveauvoll sind! 
Josienne Clarke besitzt eine Stimme, die eine entwaffnende Reinheit, eine vielschichtige Modulationsfähigkeit und eine starke Ausdruckskraft besitzt. Hinsichtlich dieser Tugenden und der Stimmfärbung erinnert sie an Sandy Denny, die sowohl bei Fairport Convention wie auch Solo Maßstäbe im Hinblick auf eine detaillierte Zusammenführung von technischer Brillanz und emotionaler Tiefe setzte. Auch Jacqui McShee, die Sängerin der wunderbaren Folk-Jazz-Formation Pentangle, die zwischen 1968 und 1973 ihre einflussreichste Phase hatte, mag ein Einfluss gewesen sein.

Eine lange Zeit fühlte sich Josienne Clarke von ihrer Plattenfirma gegängelt und unterdrückt, jetzt hat sie aber eine Form der künstlerischen Verwirklichung gefunden, in der sie ganz und gar aufgehen kann. Hinter dem Titel "Onliness" verbirgt sich folgender Sinn: "Er bedeutet sowohl Einsamkeit wie auch Einzigartigkeit; einmalig zu sein, aber auch allein in dem Sinne, dass man von anderen Dingen getrennt ist... Also hat "Onliness" sowohl eine positive Bedeutung als auch eine wirklich melancholische – und ich denke, das passt zu jedem Song, den ich je geschrieben habe." Die Verschmelzung von bezaubernder Schönheit, tiefer Sehnsucht und einer durchdachten, individuellen Inszenierung machen auf jeden Fall aus "Onliness" ein außergewöhnlich imposantes Album!

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