Teho Teardo & Blixa Bargeld - Nerissimo (2016)

TEHO TEARDO & BLIXA BARGELD machen Kunst-Pop. Die beiden Avantgardisten haben ihre zweite Zusammenarbeit NERISSIMO genannt. Das ist eine Bezeichnung für das dunkelste Schwarz. Entsprechend verhangen ist ihre Musik. Aber keine Bange, am Ende siegt das Licht.

Teho Teardo & Blixa Bargeld loten die Grenze zwischen ernster Musik und Unterhaltung aus.

Da haben sich zwei Brüder im Geiste getroffen. Der italienische avantgardistische Klang-Konstrukteur Teho Teardo und der Rock-Provokateur Blixa Bargeld - der den Sound von Einstürzende Neubauten bis heute nachhaltig prägt sowie 20 Jahre lang Gitarrist bei Nick Cave And The Bad Seeds war - haben heute in etwa die gleiche Auffassung von experimenteller Pop-Musik. Jawohl, Pop-Musik! Denn diese Klänge sind zwar ungewöhnlich und bizarr, aber dennoch von großem Unterhaltungswert. Drei Jahre nach ihrem Debüt „Still Smiling“ melden sich die beiden Querdenker jetzt wieder zu Wort.
„Nerissimo“ ist eine Bezeichnung für das dunkelste Schwarz, in dem jede Farbe, jedes Licht, jede Hoffnung und Zuversicht rettungslos verschwindet. Entsprechend ist das Klangbild häufig bedrückend, aber auch ausdrucksstark. Kammermusikalische Streicher vermitteln oft eine bedrohlich-düster-traurige Stimmung. Die Töne verströmen Charakter, drücken Lebenserfahrung aus und ziehen den Zuhörer in ihren Bann. Dazu trägt maßgeblich die ergreifende Sprech- und Sing-Stimme von Bargeld bei, mit der ein erhabenes Gefühl von Weisheit über seine geheimnisumwitterten Texte gelegt wird. Die Stimmfarbe lässt im besten Sinne an einen fesselnden Märchenonkel denken. Ein kosmopolitischer Anstrich entsteht zusätzlich noch durch die Verwendung von deutschen, italienischen und englischen Worten.
Das zweite gemeinsame Opus der engagierten Musiker wird vom Titelstück - mal in englischer Sprache, mal italienisch gesungen - eingerahmt. Freudlos-betrübt erklingt die Musik und ehrfürchtig legen sich die Noten auf das Gemüt des Hörers. Aber es ist auch Hoffnung zu spüren, die sich hier allerdings nur im Text ausdrückt.
„DHX2“ fällt durch das Wummern einer Bass-Klarinette auf, das sich wie Echos von Schiffs-Nebelhörnern anhört. Das Stück hat deutsche sowie englische Textpassagen und es wird inhaltlich ein Vorgang in sieben Stufen erklärt, der einen medizinischen Hintergrund haben könnte. Der Refrain „Hope Should Be A Controlled Substance“ wird stoisch wiederholt.
Bei „Ich Bin Dabei“ rumort es zwischendurch. Ein gedämpftes Schlagzeug, Bass und Slide-Gitarre proben den Aufstand. „The Empty Boat“ ist eine reduzierte, dramatische Ballade, die auch aus dem Songbook von Nick Cave stammen und als kammermusikalischer Avantgarde-Blues-Pop kategorisiert werden könnte.
Eine bedrohlich-skurrile, nervös-angespannte Soundlandschaft mit zwischendurch lapidar hingeworfenen Ton-Fragmenten begegnet uns bei „The Beast“. Das ist wie geschaffen als Soundtrack für Psycho-Thriller.
Eine schnarrende Bass-Klarinette tönt für „Animelle“ gleichförmig und formt Geräusche wie von einem gutmütigen Urzeit-Tier. Beschwörungsformeln werden dazu teilweise geflüstert zugeordnet. „Ulgæ“ ist ein Hörspiel mit quengelnden Klängen und sirenenhaften sowie Comic-Strip-artigen Stimmen. Das wirkt naiv und im Durchlauf wie ein Fremdkörper.
Leicht wogende Streicher-Sequenzen bereiten bei „Nirgendheim“ auf einen kräftigen, mutigen, gegen die Dunkelheit ankämpfenden Song vor. Gesprächsschnipsel und eine Bass-Harmonika hinterlassen den Eindruck von fremdartig-impulsiven Erinnerungs-Fetzen, die aus dem Unterbewusstsein in den halbwachen Zustand gespült werden. Bass-Klarinetten schwirren bei „Give Me“ wie Hornissen und verheißungsvolle Geigen künden einen neuen Morgen an. Ein textloser Sing-Sang wird wie das Pfeifen im Wald eingesetzt, nämlich als Strategie gegen die Furcht.
Die von den Avantgardisten erzeugten Klänge verströmen einen ernsthaften Kunst-Anspruch, der seinen Ausdruck in dunklen Moritaten mit elegischen, minimalistischen, mysteriösen und melodisch-experimentellen Instrumentierungen findet. Über die Noten wird eine angespannte Schwere gelegt, die mal mehr, mal weniger intensiv aufgelöst wird. Das ist Musik aus der Zwischenwelt von Halbschlaf und Traum, Bewusstsein und Unterbewusstsein, Fieber und Rekonvaleszenz, Hoffnung und Verzweiflung, Rausch und Realität. Was ist überhaupt Realität? Das, was wir in diesem Moment empfinden und wahrnehmen. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt. Denn Wahrnehmung ist relativ, da sie individuell unterschiedlich erlebt wird. Genau wie diese Klänge.
Die Musik vermittelt über weite Strecken den Eindruck, als sollte „Music For 18 Musicians“ von Steve Reich neu interpretiert und vertont werden, denn auch dort wird ein minimaler experimenteller Wohlklang in Moll geboten. Teho Teardo & Blixa Bargeld schaffen eine Scheinwelt, die kunstvoll ausgekleidet und emotional aufgeladen ist. Das ist mindestens eine so intensive Erfahrung wie ein Dinner im Dunkeln.

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