BONOBO - Migration (2016)

BONOBO veröffentlicht "Migration". Ist das Fahrstuhlmusik oder Art-Pop?

Bonobo schlägt einen Bogen zwischen Lounge-Beschallung und Kunstobjekt. So lautet die Schlagzeile zu meiner Rezension von MIGRATION, dem sechsten Album von Simon Green alias Bonobo. 

Fahrstuhlmusik oder Art-Pop? Bonobo schlägt einen Bogen zwischen Lounge-Beschallung und Kunstobjekt.

Ein Bonobo ist ein Zwergschimpanse, der sich vor allem durch seine Friedfertigkeit und sein ausgeprägtes Sozialverhalten auszeichnet. Auch die Musik des englischen Allrounders Simon Green, der sich mit der Primatenbezeichnung als Künstlernamen schmückt, besitzt stets ein ausgleichendes Element.
Bonobo (Simon Green): Migration (180g) (2 LPs) – jpc
Das Stück „Migration“ dokumentiert das Fließen der Zeit als einen tickenden oder tropfenden Zustand, der durch schillernde, ablenkende Impressionen ausgeschmückt wird. Gleichmut und Aktionismus sind dabei gleichberechtigt vorhanden. Das symbolisiert den eintönigen Alltag sowie die Abkehr davon, die Produktivität ins Leben bringen kann. Der ätherische, makellose, weiblich anmutende Gesang von Michael Milosh, dem Sänger der Band Rhye, wird beim unauffälligen „Break Apart“ leichtfüßig, Soul andeutend, aber unaufdringlich eingesetzt. Im Electro-Pop gibt es manchmal nur einen schmalen Grat zwischen Kunst und Künstlichkeit. Die Verwendung von Minimal-Art-Mustern für „Outlier“ deutet auf die Beschäftigung mit der Wirkung der Dehnung von Zeit hin. Ein swingender Beat dient zur Ablenkung der Gedanken beim Chill-out. Musik-Theorie trifft also auf praktischen Nutzen.
Zeit ist generell ein relativer Begriff und in der Musik gibt es Mechanismen, die sie subjektiv länger oder kürzer erscheinen lässt. Der menschliche Geist lässt sich gerne und leicht täuschen und so benutzt auch Bonobo die Aneinanderreihung von Tönen dazu, um Zustände zwischen Routine und Euphorie zu erzeugen. Bewegung und Veränderung sind die zentralen Themen der neuen Kompositionen. Und zwar bezogen auf den Einfluss, den Menschen auf Orte und die Natur haben, wenn sie umsiedeln. „Grains“ scheint in einer Schleife aus Zeit und Raum sowie zwischen Orient und Okzident gefangen zu sein und „Second Sun“ fängt die Erhabenheit ein, die zum Beispiel ein Spaziergang in freier Natur mit sich bringen kann. Romantische Klassik-Figuren, exotische Welt-Musik-Eindrücke, die Gelassenheit von elektronischen Schwebeklängen und Tupfer von natürlicher Folk-Wärme werden beispielhaft als Essenz des Bonobo-Sounds verarbeitet.
Der seichte Electro-Pop von „Surface“ plätschert emotionsleer mit der gleichförmig-unbeteiligten Stimme von Nicole Miglis von Hundred Waters vor sich hin, aber „Bambro Koyo Gandra“ bringt dafür ungeschönte Ursprünglichkeit in Form von afrikanischer Folklore durch die marokkanische Band Innov Gnawa ins Spiel. Elektronische Taktgeber überlagern dabei im Verlauf die menschliche Komponente. Der Himmel von Afrika beleuchtet die pulsierende Tanzfläche und selbst in Atempausen wird frische Lebensenergie verströmt.
Traditionelle, asiatisch anmutende Klänge verschaffen sich für „Kerala“ Raum in der Club-Szene. Vergangenheit und Gegenwart wechseln die Seiten und befruchten sich gegenseitig. Bei „Ontario“ scheint das Knacken von Eis und das Knirschen von Schnee beim Entwerfen des Klangbildes eine Rolle gespielt zu haben. Glitzernde Töne umgeben sich mit Zirpen, Brummen, Marsch-Ansätzen und Blechblas-Hymnen. Das Miteinander der unterschiedlichen, angedeuteten Kulturkreise setzt positive, verbindende Akzente. Tristesse kann bei „No Reason“ von Sänger Nick Murphy (ex-Chet Faker) in der gebrochen-intimen Manier von James Blake vermittelt werden. Die Begleitung dazu ist fiebrig-nervös und der Gesang fällt manchmal in ein unsicheres Falsett. Das ist ein Konzept der konstruierten Melancholie, das derzeit gerne im Electro-Pop Verwendung findet, um Seriosität zu erzeugen.
„7th Sevens“ sondert Schwingungen ab, die sowohl auf Experimentierfreude als auch auf Feierlaune hindeuten. Der Titel wirkt zunächst polarisierend, weil die Zutaten unvereinbar erscheinen. Bei „Figures“ werden Schatten zwischen Melodie und Rhythmus geworfen, was den Track lange im Befindlichkeits-Modus verweilen lässt. Mehrschichtige Klangflächen sind eine Hauptzutat bei den Bonobo-Kompositionen. Durch die Kombination von schwerelosen Melodien, statischen Klängen, periodisch wiederkehrenden Tönen und Geräusch-Samplings können ästhetisch wertige Konstruktionen mit Symbolcharakter entstehen. Aber auch hohle Allerwelts-Darbietungen mit hinlänglich bekannten Mustern sind möglich („Break Away“, „Surface“).
Um als Gesamtkunstwerk durchgehen zu können, fehlt „Migration“ deshalb ein durchgängiger Ansatz, der gänzlich auf formelhafte Berieselung verzichtet. Festzuhalten bleibt, dass die Gesangspartner auf dem sechsten Bonobo-Werk meistens defensiv ausgerichtet sind und so auf eine individuell auffallende Profilierung verzichtet wird. Ein Vorgehen, das aus Sicht des friedvoll fließenden Ansatzes der Musik Sinn macht, aber die Möglichkeit einer konstruktiven, innovativen Abgrenzung zur Konkurrenz verhindert.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Waiting For Louise - Rain Meditation

Jahresbestenliste 2023

Lesestoff: Pop steht Kopf