Bill Callahan - Shepherd In A Sheepskin Vest (2019)

Kann Bill Callahan nach fünf Jahren Veröffentlichungs-Pause mit "Shepherd In A Sheepskin Vest" an seine kreativen Höhenflüge anknüpfen?
Ist Bill Callahan ein Seher oder Schamane? Blickt er tiefer in die menschliche Seele als andere Musiker oder ist er tiefenpsychologisch begabt, so dass er Zusammenhänge begreift, die anderen Menschen verborgen bleiben? Zumindest beschleicht einen das Gefühl, dass seine Musik aus mysteriösen, geheimwissenschaftlichen Quellen schöpft. So fremd- und andersartig, aber gleichzeitig auch vertraut und warmherzig klingen seine Schöpfungen. Callahans markant-durchdringende, vertrauensvolle Bariton-Stimme ist derart wohlklingend, dass er mit ihr auch einen Eskimo davon überzeugen könnte, einen Kühlschrank zu kaufen. Seit 2014 gab es nichts Neues von dem Mann mit der sonoren Stimme zu hören. Sein Leben, das vom Suchen, Ausleuchten und Entdecken des musikalischen Raumes geprägt war, änderte sich nämlich grundlegend und ließ den bisher emsig forschenden Eigenbrötler neue Prioritäten aufstellen: Bill heiratete 2014 die Filmregisseurin Hanly Banks und ein Jahr später bekam das Paar einen Sohn. Aus dem unabhängigen Künstler wurde ein verantwortungsvoller Ehemann und Vater. Das veränderte die Perspektiven, den Tagesablauf und die Denkabläufe dramatisch.
Nach rund einem Dutzend Alben als Smog veröffentlichte Callahan 2007 mit „Woke On A Whaleheart“ das erste Album unter eigenem Namen. Es folgten „Sometimes I Wish We Were An Eagle“ (2009), „Apocalypse“ (2011) und „Dream River“ (2013). 2014 brachte der Individualist unter dem Namen „Have Fun With God“ eine widersprüchlich-unausgegorene Dub-Version von „Dream River“ heraus. Das aus zwanzig Stücken bestehende, über eine Stunde lange „Shepherd In A Sheepskin Vest“ ist jetzt also quasi ein Comeback unter veränderten Vorzeichen, das unter dem Einfluss der neuen Erfahrungen entstanden ist. Haben diese Einschnitte aber zu einer Kurskorrektur geführt oder ist eventuell so etwas wie Altersmilde beim bislang kompromisslos agierenden 53jährigen Musiker zu spüren?
Der Opener „Shepherd’s Welcome“ beginnt als neblig-trübes Heim-Demo zur akustischen Gitarre und nach eineinhalb Minuten flammt eine räumliche, klar produzierte Art-Folk-Aufnahme auf. Das Lied nähert sich nur zögernd dem Hörer, nimmt sich Zeit zur Entfaltung und bleibt auch nach dem Ende der kargen Übungsraum-Einleitung spröde und unnahbar. Mit dem bereits im Opener angekündigten „Black Dog On The Beach“ folgt ein wehmütiger Country-Song, der Traditionen sowie alternative Sichtweisen dieses Stils berücksichtigt. Bei „Angela“ baut Bill Jazz-Bestandteile in den gemächlich schlendernden Folk-basierten Song ein und erzeugt so bei aller Coolness eine intellektuell ausgerichtete Zielrichtung.
Für das psychedelische „The Ballad Of The Hulk“ wird zwischendurch ein stoischer Drum-Machine-Rhythmus installiert, der den Track aus der Hippie-Umgebung löst und ihm dadurch phasenweise urbane Schwingungen verleiht. Das sich anschließende, ländliche „Writing“ verwendet ein Akustik-Gitarren-Picking, das Willie Nelson zitiert und im Verlauf des Werks noch einmal Anwendung findet. Der Titel schwelgt ansonsten in weitläufigen Sound-Landschaften, die Hoffnungen und Träume wecken. Beim melancholischen „Morning Is My Godmother“ erhält Callahan gesangliche Verstärkung durch seine Frau, die seltsam-geisterhaften Background-Gesang beisteuert.
Der bewegliche, aber verhalten agierende Country-Folk „747“ ist positiv gestimmt und steigert seine Vitalität ständig über die gesamte Laufzeit hinweg, ohne dass irgendwelche Hindernisse eingebaut werden. Das mit Country, Blues und Jazz flirtende „Watch Me Get Married“ gibt sich grundsätzlich lieblich und anschmiegsam, bewahrt sich aber dennoch eine gewisse im Hintergrund schwelende Aufmüpfigkeit. „Young Icarus“ versprüht anfangs die Unbekümmertheit und Naivität eines Kinderliedes, bekommt dann aber die Kurve und mutiert zu einem wortreichen, verwinkelten Pop-Song, der so ähnlich auch von Jonathan Richman hätte stammen könnte. Das leise, zerbrechlich wirkende „Released“ bricht nach einer Minute plötzlich kurz aus dem beruhigenden Konzept aus und offenbart rebellische Töne, die sich jedoch nicht etablieren können.
Das unaufgeregte „What Comes After Certainty“ erzählt unter anderem von einer Begegnung mit Willie Nelson, bei der Bill heimlich dessen Gitarre signierte. Bei dieser Schilderung greift er wieder dessen eigentümliche Zupf-Gitarrentechnik auf. „Confederate Jasmine“ ist ein Folk-Jazz, dem die Vermittlung von Ausgeglichenheit und Intimität wichtiger ist, als die Herausstellung künstlerischer Einzigartigkeit. Entsprechend entspannt und gleichzeitig anregend klingt der Song. 
Der lustig hüpfende Hillbilly-Folk „Call Me Anything“ wird von Callahan für müde Tänzer und aufmerksame Zuhörer gesungen. „Son Of The Sea“ berichtet dann über die privaten Veränderungen im Leben von Bill und deren Auswirkungen. Der Titel bewegt sich dabei im gezügelten Folk-, Country- und Jazz-Umfeld.
Der jazzige Slow-Blues „Camels“ setzt wirkungsvoll Dynamik- und Tempo-Änderungen zur Steigerung der Intensität ein. „Circles“ zitiert in seiner blumigen Verspieltheit sowohl Hippie-Folk wie auch Smooth-Jazz und „When We Let Go“ ist ein mild swingendes Stück, das sich immer wieder selbst ausbremst und so gewollte Brüche erzeugt. „Lonesome Valley“ klingt wie ein traditionelles Country & Western-Lied, das manchmal durch klatschende Drums aus der Gemütlichkeit gerissen wird. Ein stupider Takt trägt „Tugboats & Tumbleweeds“ über die Zeit, wodurch der Track moderat schunkelt. Der Ablauf von „The Beast“ ist typisch für einige Songs auf dem Album: Vertrackt-umständlich, teils sperrig bahnt er sich seinen Weg, erregt somit Aufmerksamkeit und wird mit Hilfe der sympathischen Stimme zusammengehalten. Die holprige Struktur der Komposition wird zum Schluss ganz aufgelöst und der Song verhallt in sphärischen Dauertönen.

Eigentlich ist bei Bill Callahan alles beim Alten geblieben: Auch „Shepherd In A Sheepskin Vest“ bietet keine leichte Kost. Selbst nach mehreren Durchläufen bleibt manchmal ein eigensinnig-mürber Eindruck zurück, wenn sich sanfte Harmonien innerhalb eines Songs mit eindringlich irritierenden Passagen abwechseln. Die Musik ist immer noch anspruchsvoll: Callahan fordert den Hörer heraus, sich auf seine Eskapaden einzulassen. Er lockt mit süßen Verführungen, hält dann aber wieder Abstand durch unerwartete Wendungen und Schlenker. So werden Erinnerungen an den psychedelischen Songwriter Kevin Ayers, den Americana-Tüftler Joe Henry, die Jazz-Pop-Fusion-Truppe Mark-Almond und die Melancholiker von den Tindersticks wach. Bill setzt auf eine fast ausschließlich akustische Begleitung, die verzahnte Melodieschleifen anstatt von einprägsamen, eingängigen Refrains bevorzugt. Zusätzlich bestückt der Musiker seine kunstvolle Roots-Music mit eigener Poesie, die er wie ein Art-Folk-Dalai-Lama als unverrückbare Wahrheit präsentiert (z.B. „Wahre Liebe ist keine Magie, sondern Gewissheit. Und was kommt nach der Gewissheit? Eine Welt voller Geheimnisse“ aus „What Comes After Certainty“). Mit der neuen Platte bringt Bill Callahan jedenfalls wieder die Freunde von unkonventioneller Lied-Kunst auf seine Seite.
Erstveröffentlichung dieser Rezension: Bill Callahan - Shepherd In A Sheepskin Vest

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