Noth - Die Wahrheit über Arndt

"Die Wahrheit über Arndt" wird in einem Singer-Songwriter-Hörspiel zur Entdeckung freigegeben. 

"Die Wahrheit über Arndt" belebt das Genre des Konzeptalbums neu. Linus Kleinlosen (Synthesizer, Alt- und Baritonsaxophon) und Luis Schwamm (Gesang, Akustik- und E-Gitarre) formen die Gruppe Noth, die kultivierten Jazz-Pop pfiffig und abwechslungsreich präsentieren. Sie bezeichnen ihre Arbeit als psychotische Office-Operette oder als akustische Road-Novel. Auch Begriffe wie biografisches Musical oder gesungene Biografie, Charakter- oder Milieustudie kommen zur Geltung. Es geht bei allen Umschreibungen jedoch in erster Linie darum, dass die Lebensumstände des 38jährigen Hannoveraner Start-Up-Beschäftigten Arndt beschrieben werden sollen, die im Zoo beginnen und im Waldbad enden.
Von links nach rechts: Luis Schwamm, Linus Kleinlosen
Credit: Rebecca Kraemer

Im "Zoo" begibt sich Arndt auf die Suche nach sich selbst, gefällt sich mit seiner adretten Frisur, taxiert die anderen Zoobesucher, interessiert sich besonders für das Affenhaus und entdeckt dort hinter spiegelndem Glas sein Ebenbild. Die Musik folgt dabei keinerlei Trends, ist weder Retro, noch alternativ, reiht sich aber undogmatisch zwischen Folklore, Jazz und Chanson locker swingend ein.
Bei "Nur zu" wird das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Arbeitskollegen beschworen, der gemeinsame Spaß herausgestellt und die Wichtigkeit des Individuums für das Gelingen des Ganzen, aber auch der besondere Wert des Kollektivs betont. Abgedroschene, leere und ausbeuterische Motivationsfloskeln stecken hinter diesen Aussagen. Die Ansprache an Arndt erhält eine langsame, anschmeichelnde, beruhigende Soft-Folk-Jazz-Untermalung und bekommt durch ein melodisches Saxophon-Solo noch einen individuellen Anstrich.
Arndt schwärmt für "Anita", mit der er ein unvergessliches Auslandssemester in Spanien verbrachte. Jetzt hofft er, dass er sie in vier Monaten wiedersehen kann. Die akustische Gitarre vermittelt passenderweise einen Hauch von Flamenco, die Streichinstrumente erzeugen sehnsüchtige Gefühle und Luis Schwamm singt dazu mit traurig-flehentlicher, aber gefasster Stimme.
In der Arbeitswelt befindet man sich nicht unbedingt in einer homogenen Gruppe. "Mucksmäuschenstill" zeigt auf, welche Schwierigkeiten es geben kann, wenn eine einzelne Person nicht ins allgemeine Erwartungs-Schema passt: Über die Witze des unangepassten Arbeitnehmers wird dann eventuell nicht gelacht, aber bei einem Missgeschick dieses Menschen lachen dann alle über den Unglücksraben. In solch einer Umgebung fühlt sich Arndt natürlich unwohl und zieht sich zurück. Der orchestral wirkende, partiell zackige Groove-Rock vermittelt eine dem Umfeld entsprechende Nachdenklichkeit und eine gewisse Protesthaltung.

Bei "Sichere Seite" geht es um Entfremdung in der Partnerschaft. Maren will von Arndt wissen, was er eigentlich will, ob er ihr noch zuhört und wo er grade mit seinen Gedanken ist. Arndt ist gedanklich bereits 15 Jahre voraus und die Aussicht, die sich ihm da bietet, raubt ihm den Schlaf. Die schleppende Ballade kann ihre unter der Oberfläche gärende Morbidität nur schwer verbergen und versucht sich zum Ende hin durch einen optimistischen Saxophon-Beitrag davon zu befreien.

Als Mitarbeiter bei einem Start-Up muss Arndt viel Zeit bei der Arbeit verbringen. So kommt es, dass er auch mal mitten in der Nacht im Büro aufwacht, weil er vor Erschöpfung eingeschlafen ist. In diesem zwischen Halbschlaf und Realität angesiedelten Zustand sprudeln bei "Steuerpionier" Assoziationen vom Aufenthalt im Weltraum, die sich mit tatsächlichen Wahrnehmungen wie einem Brief vom Finanzamt Hannover und einem schlechten Gewissen mischen. Was hat das alles miteinander zu tun? Bockiger Progressive-Rock konkurriert als Kontrast mit heuchlerischem Soft-Rock, was eine aufreizende Mischung ergibt, die die kontroverse Situation nachempfindet.

Szenen aus der Vergangenheit huschen durch Arndts Gedächtnis. Er ist wütend, weil eingeplante Leute (die Arbeitskollegen?) nicht zu seinem "Geburtstag" erschienen sind. Langsam zieht ein Verdacht am Horizont auf: Geht hier alles mit rechten Dingen zu? Der sämig-halluzinogene Progressive-Folk-Rock-Sound erzeugt dazu ein Klima, das den sich ankündigenden psychotischen Geisteszustand vorwegnimmt.
Bei "Fucking Vorurteile" kommt (wahrscheinlich) Anita zu Wort, für die Robin Damm den Leadgesang übernimmt. Sie verteidigt Arndt gegen angebliche Vorurteile und meint: "Es ist sicher nicht so leicht, in jeder Winzigkeit das ganze Bild zu sehen, das große Ganze zu verstehen." In einem jazzigen Electro-Pop verpackt die Freundin ihre Entrüstung und demonstriert ihr Vertrauen.
"Wohin ich auch laufe, ich laufe doch immer davon, es bräuchte wohl Ziele, um jemals irgendwo anzukommen", sinniert Arndt bei "In der Luft". Auf dem Weg zur Sportabteilung von Karstadt entlädt sich Arndts Anspannung spontan. Er reißt unvermittelt Regale mit Tassen, Tellern, Pfannen und Besteck um. Beim Aufsammeln der Scherben zerschneidet er sich die Hände und der Stress beschert ihm einen Tinnitus. Arndt scheint ein dunkles Geheimnis mit sich zu tragen, denn in dieser angespannten Lage fragt er sich, wie lange es wohl dauert, bis alles auffliegt. Der Spoken Word-Teil beansprucht einen relativ großen Anteil bei diesem Mystery-Jazz-Track, er trägt dafür aber auch einiges zum Verständnis der Zusammenhänge bei.

Der Überblick über Gedanken und Geschehnisse im Leben von Arndt endet im "Waldbad", wo ihn sechs Polizisten im Schwimmbecken in Augenschein nehmen. Seine geschäftlichen Manipulationen sind offensichtlich ans Tageslicht gelangt. Über die Konsequenzen für Arndt lässt uns die Schilderung im Unklaren. Mit einem Sound, der wie beim Opener "Im Zoo" Folklore, Jazz und Chanson miteinander verquickt - wobei diesmal spielerischer Jazz im Fokus steht - endet "Die Wahrheit über Arndt".

Die Geschichten und Gedanken, die "Die Wahrheit über Arndt" ausmachen, sind aus dem Leben gegriffen. Dahinter steht das Konzept eines Gesamtkunstwerks, das nicht unrund und abgehoben ist, sondern dessen Facetten unmittelbar nachvollziehbar sind. Es gibt keine Brüche in der Ausführung, was die Kombination zwischen Hörspiel und Singer-Songwriter-Album angeht. Die Komponenten verschmelzen nahtlos miteinander. Bei der akustischen Realisierung halfen noch Laila Nysten (Geige), Rabea Bollmann (Cello), Daniël Eskens (E-Bass), Konstantin Herleinsberger (Tenorsaxophon), Silvian Strauß (Schlagzeug) und Raúl Semmler als Sprech-Stimme von Arndt.

Bei solch einer ambitionierten Arbeit kann leicht eine falsche Richtung eingeschlagen werden, was zu einer Versteifung von Text und/oder Musik oder sinnentleerten Inhalten und Schlussfolgerungen führen kann. Das alles findet hier nicht statt, sondern das Medium Konzeptalbum ist mit "Die Wahrheit über Arndt" um ein Highlight reicher geworden. Dieses Album bietet eine erfrischende Vorgehensweise, intelligente Gedankenspiele und eine reizvolle, kultiviert-unangestrengte Musik. Somit sorgt das Gesamtpaket für gute Unterhaltung!

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