Graham Nash - Live (Songs For Beginners / Wild Tales)

Nur Nostalgie? Graham Nash veröffentlicht einen Konzertmitschnitt, bei dem er seine ersten beiden Solo-Alben komplett aufführt. 

Anfang der 1970er Jahre waren Crosby, Stills, Nash & Young eine der erfolgreichsten Bands auf dem Planeten. Begleitet wurde diese Phase von zwei herausragenden Tonträgern: Dem Studio-Werk "Déjà Vu" aus 1970, einem Westcoast-Rock-Meisterwerk der vier Individualisten, das mehr Wert ist als die Summe seiner Teile und von "4 Way Street", einem eindrucksvollen Dokument ihrer erfolgreichen "Déjà Vu"-Tournee. Was damals kaum jemand ahnte: Schon bei den Aufnahmen zu "Déjà Vu", die im zweiten Halbjahr von 1969 stattfanden, waren die Musiker untereinander zerstritten und standen nur selten gemeinsam im Studio. 

Anfang der 1970er Jahre wurden die Fans des Westcoast-Folk-Rock mit denkwürdigen Aufnahmen verwöhnt, denen der Zahn der Zeit nichts anhaben konnte. So waren auch David Crosby, Stephen Stills, Graham Nash und Neil Young mit der Realisierung von Solo-Projekten beschäftigt, um ihre kreativen Schübe ausleben zu können. David Crosby brachte 1971 mit "If I Could Only Remember My Name" ein Referenzwerk des Psychedelic-Rock heraus, Stephen Stills veröffentlichte von 1970 bis 1973 vier grandiose, abwechslungsreiche Platten, die neben Country- und Westcoast-Rock auch Latin-Rhythmen enthielten ("Stephen Stills" (1970), "Stephen Stills 2" (1971), "Manassas" (1972), "Down The Road" (1973) und Neil Young brillierte mit allen seinen Werken der 1970er Jahre, wie unter anderem mit "After The Goldrush" (1970), "Harvest" (1972), "On The Beach" (1974) oder "Tonight`s The Night" (1975).

Während Crosby, Stills und Young eine langjährige Erfahrung mit Westcoast-, Folk- und Psychedelic-Rock erworben hatten, traf Graham Nash erstmalig 1966 während einer USA-Tournee auf Crosby & Stills. 1968 sah man sich auf Veranlassung der gemeinsamen Freundin Cass Elliott (The Mamas And The Papas) in der Künstlerkolonie im Laurel Canyon bei Los Angeles wieder. Danach verließ Graham The Hollies und die Formation Crosby, Stills & Nash wurde geboren. Nash etablierte sich schnell in dem neuen Umfeld, hatte eine Liaison mit Joni Mitchell und veröffentlichte 1971 sein Solo-Debüt "Songs For Beginners", das nach der Trennung von Mitchell entstand und textlich natürlich davon beeinflusst war. 2010 wurde das Werk komplett gecovert ("Be Yourself: A Tribute To Graham Nash`s Songs For Beginners"), was den Stellenwert für nachfolgende Musikergenerationen dokumentiert. Mit dabei waren unter anderem Robin Pecknold von den Fleet Foxes ("Be Yourself"), Bonnie "Prince" Billy ("Simple Man (Hombre Sencillo)") und Brendan Benson (The Raconteurs) ("Better Days"). 1972 folgte das Duett "Graham Nash/David Crosby" und 1974 das bedrückend-dunkle zweite Solo-Album "Wild Tales". Nash gab bei einem Interview mit der Irish Times eine Erklärung für die Stimmung: "Die meisten traurigen Songs handeln von meiner Beziehung zu Joni Mitchell“. Bis heute sind die ersten drei Alben die qualitativ besten Platten des Engländers.

Der 1942 in Blackpool geborene Nash war immer sowas wie der ruhende Pol bei Crosby, Stills, Nash & Young, der zwischen den anderen Hitzköpfen schlichtete. Aber sein Leben verlief auch nicht ohne einschneidende Veränderungen: 1975 wurde seine Freundin Amy Gossage von ihrem Bruder ermordet; zwischen Nash und seinem besten Freund David Crosby herrscht nach einem heftigen Streit auf offener Bühne Funkstille und seine zweite Ehe wurde nach 38 Jahren geschieden.

Neben der Musik hegt Graham schon seit Kindertagen eine zweite Leidenschaft, die Fotografie. In den 1970er Jahren begann er zusätzlich mit der Sammlung von Fotos. Seine eigenen Schöpfungen wurden als Bücher ("Eye To Eye: Photographs By Graham Nash") (2004) und "A Life In Focus: The Photography Of Graham Nash" (2021) abgedruckt. Außerdem kam 2013 noch die Biografie "Wild Tales: A Rock & Roll Life" heraus. 

Am 15. April 2016 erschien mit "This Path Tonight" das bisher letzte Studioalbum von Graham Nash. Am 2. Februar 2022 wurde er 80 Jahre alt und am 06. Mai 2022 erblickt nun eine Aufführung seiner ersten beiden Solo-Werke, die bei vier verschiedenen Konzerten im Jahr 2019 entstand, das Licht der Welt. Dabei wurde Nash von acht Musikern, wie Shane Fontayne (Gitarre und Gesang) und Todd Caldwell (Keyboards, Tenorsaxophon und Gesang), Thad DeBrock (Pedal Steel Gitarre), Andy Hess (Bass) und Toby Caldwell (Schlagzeug) begleitet.

Die Antikriegs-Hymne "Military Madness" 
hat immer noch traurige Aktualität. 1991 spielten Crosby, Stills & Nash sie zu Beginn ihrer Akustik-Tournee, da der Irak-Krieg grade begonnen hatte. Der Song macht darauf aufmerksam, welches Elend der Krieg auch über die Zivil-Bevölkerung bringen kann. Gewinner sind immer nur die Waffenhändler, ansonsten gibt es nur Verlierer. Trotz des ernsten Themas wurde der Song so komponiert, dass er schunkelnd für Wohlgefallen sorgt - ein harmonisches Bollwerk gegen den Wahnsinn.
"Better Days" betreibt Trauerarbeit nach einer schmerzvollen Trennung: Wenn die Liebe vorbei ist, musst du dich den Gegebenheiten stellen und dich an bessere Zeiten erinnern, lautet der Ratschlag zur Überwindung der seelischen Qual. Der Song beleuchtet die Dreiecksgeschichte zwischen Nash, Stills und Rita Coolidge und ist eine rührende Piano-Ballade mit groovendem Folk-Rock-Mittelteil, der auch in der Live-Fassung seine dringliche Wirkung nicht verfehlt.
Und gleich danach folgt mit "Wounded Bird" noch eine Beziehungs-Aufarbeitung, nämlich das Verhältnis zwischen Stephen Stills und der Folk-Sängerin Judy Collins. Die Wahl der Untermalung fiel auf einen intimen Folk-Song, bei dem einsame, traurige Gitarren und himmlische Harmoniegesänge eine bedächtig-ausgeglichene Melancholie in die Ohren zaubern.
Das sehnsuchtsvoll klagende und gleichzeitig optimistisch aufbegehrende "I Used To Be A King" kokettiert mit einem langsamen, unaufdringlich mitlaufenden Boogie-Rhythmus, der dem Song einen frechen Unterton verleiht.
"Be Yourself" bleibt im Grunde genommen durch seinen eingängigen Mitsing-Refrain im Gedächtnis, der sich wie ein Durchhalte-Mantra anhört.
Graham Nash schrieb das zu Herzen gehende, intime "Simple Man" einen Tag nachdem Joni Mitchell mit ihm Schluss gemacht hatte. An diesem 7. Juni 1970 spielte er mit Crosby, Stills & Young ein Konzert in New York, bei dem Joni im Publikum saß und sich Zeilen wie "Ich war noch nie so verliebt und wurde noch nie so verletzt" anhören musste.
Bei "Man In The Mirror" geht es um Selbst-Reflexion und Neuanfang. Die Melodie wirkt zu Beginn unschuldig-naiv wie ein Kinder- oder Wiegenlied. In Verbindung mit der bittersüßen Überleitung entsteht ein romantischer Country-Folk, dem Nash durch seinen glaubwürdigen, starken Gesang das Image eines geläuterten Abenteurers verpasst.
Es gibt nur eine Erde, die für uns alle da ist. So in etwa ist die weltverbessernde Botschaft des Liedes "There’s Only One" zu lesen. Das klingt zwar wie Kalenderblattphilosophie, ist aber eine unumstößliche Wahrheit. Durch den Gospel-Chor-Harmonie-Gesang erhält die Ballade quasi spirituelle Weihen und geht als Country-Soul durch.
Der leise-nachdenkliche Barock-Pop "Sleep Song" bekam mit "Another Sleep Song" auf "Wild Tales" einen Nachhall, wobei dem letztgenannten Track eine unheimlich-mysteriöse Aura umgibt.
Neben "Military Madness" ist "Chicago" das zweite politische Statement auf "Songs For Beginners". Hintergrund des Liedes ist die gewalttätige Auflösung einer Demonstration beim Parteitag der Demokratischen Partei im Jahr 1968 in Chicago. Der locker swingende Pop-Song "Chicago" erreichte Platz 35 der Single-Charts der USA und hat eine Textzeile, die Graham heute nicht mehr so singt: "Vorschriften - wer braucht sie?" ersetzte er durch "Einige dieser Vorschriften - wer braucht sie?". Der Anhang zu dem Lied heißt "We Can Change The World" und zelebriert als kurzes, swingendes Chor-Outro die Macht der außerpolitischen Veränderungen.
Die Songs auf "Wild Tales" beschreibt Nash als "düster und launisch". Sein Label "Atlantic" konnte sich nicht für das Werk erwärmen und gab nur wenig Geld für Werbung aus, weshalb es kommerziell weniger erfolgreich als sein Vorgänger war. Dabei ist es wesentlich intensiver und wagemutiger. Aufgrund seiner überwiegenden Dunkel- und Verschrobenheit ist es natürlich nicht so zugänglich wie "Songs For Beginners", dafür aber nachhaltig spannend.

Der Groove-Rocker "Wild Tales" wird im Original von der schneidenden Slide-Gitarre von David Lindley angetrieben. Shane Fontayne erledigt diese Aufgabe bei der Bühnen-Show nicht ganz so enthusiastisch, sondern ist bemüht, ins ausgeglichene Sound-Bild zu passen.
Das Country-Folk-Stück "Hey You (Looking At The Moon)" hätte in seiner Entspanntheit auch auf Neil Young`s "Harvest" gepasst. Diese Stimmung wurde auch 2019 zuverlässig auf die Bühne übertragen.
Der "Prison Song" wurde von einem Ereignis inspiriert, das Grahams Vater passierte: Er hatte von einem Arbeitskollegen eine Kamera gekauft, die gestohlen war. Mr. Nash sr. wollte aber gegenüber der Polizei den Verkäufer nicht verraten und ging deshalb wegen einer nicht begangenen Straftat ein Jahr in den Knast. Graham packt seine Kritik am Justizsystem in einen Blues-getränkten Folk-Song, dessen Harmonika-Spiel Wut und Verzweiflung ausdrückt.
Der Country-Tränenzieher "You’ll Never Be The Same" hält trotzig an der Meinung fest, dass die Verflossene mit der Auflösung der Partnerschaft einen großen Fehler begangen hat. Und was ist passender für den Transport einer solchen Situation, bei der es um die Verletzung von Stolz geht, als ein klassisches Country-Arrangement?
"And So It Goes" ist ein ergreifendes Lied, das die Magie der Musik beschwört und befeuert. Ein rollender Rhythmus und eine weinende Steel-Guitar bilden die Basis für ein verführerisches Noten-Gerüst.
Trotz des Titels versprüht "Grave Concern" Kampfgeist und Optimismus. Der Southern-Rock-Track wird wieder von einer markanten Slide-Gitarre dominiert, kann aber auch wegen seines entschlossenen Gesanges gefallen.
"Oh! Camil (The Winter Soldier)" erzählt die Geschichte des Vietnam-Kriegs-Veterans Scott Camil, der zum Antikriegsaktivisten und Gründer der Vereinigung "Vietnam Vets Against The War" wurde. Nash gießt seine Worte in einen schwungvollen Protest-Song Folk, wie er von Phil Ochs gerne genutzt wurde. Die Live-Version ist etwas langsamer und bedächtiger als das Studio-Original ausgefallen.
"I Miss You" steckt voller liebeskranker Schwingungen eines gebrochenen Herzens. Die Piano-Ballade badet nicht in Selbstmitleid, sondern reflektiert auch auf demütige Art gute Zeiten.
Im Vergleich zum vorherigen Track ist "On The Line" beinahe fröhlich. Der Rhythm & Blues-Rhythmus tänzelt, die Harmonika schäumt und der Boogie-Woogie Rhythmus wird kontrolliert im Zaum gehalten. Da kann auch die schön weinerliche Steel-Gitarre die Stimmung nicht mehr runterziehen.
"Another Sleep Song" ist das Herzstück des Albums, weil es zurückhaltend, innig und schmerzlich wehmütig ist. Eine Stimmung, die in ähnlicher, aber nicht so ausgeprägt-konsequenter Art und Weise über vielen Songs von "Wild Tales" schwebt. Beim Original singt Joni Mitchell eine verletzliche Kopfstimme und in der Live-Version klingt der Bass wie eine dunkle Glocke, die das Unbewusste ins Bewusstsein holt. "Another Sleep Song" ist wie ein Monument, dass aus dünnem, zerbrechlichen Stahl gefertigt wurde.

Handelt es sich bei "Live (Songs For Beginners / Wild Tales)" etwa "nur" um ein Nostalgieprojekt? Das kann man so sehen, wenn man will. Nash bildet gemäß dem Konzept seine Klassiker so authentisch wie möglich ab, so wie es Konzertbedingungen eben zulassen. Er gibt fast keine Kommentare ab, will sich auch gar nicht neu erfinden oder neue Erkenntnisse und Trends einfließen lassen oder seine Lieder in einem anderen Licht darstellen. Er beweist damit, dass die Songs immer noch einwandfrei funktionieren. Und weil er weder körperlich noch stimmlich zum alten Eisen gehört, kann er eine sehr ordentliche Vorstellung abliefern.

Die frühen 1970er Jahre waren hinsichtlich der Entwicklung der Pop- und Rock-Musik eine Offenbarung und an der amerikanischen Westküste fanden ehrliche, intelligente, empathische und kreative Musikern zusammen, die sich zunächst gegenseitig befruchteten und im freundschaftlich-originellen Wettstreit miteinander standen. Nach und nach wurde dieser Zustand allerdings durch zu viele Drogen, Arroganz und kommerzielle Ausbeutung zerstört.

Ich denke, es ist gestattet, angesichts der Erinnerung an die großartige Musik, die im Umfeld von Crosby, Stills, Nash & Young entstand und den Zahn der Zeit schadlos überstanden hat, nostalgisch zu werden. Grade in stürmischen Zeiten tut es gut, sich an bleibenden Werten zu orientieren.

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