Horace Andy - Midnight Scorchers

"Midnight Scorchers" ist die Fortsetzung von "Midnight Rocker", womit Horace Andy (mindestens) seinen zweiten Frühling erlebte. 

Die Entwicklung des Reggae wurde nicht nur durch prägende Musiker, sondern auch durch innovative Produzenten geprägt. Dazu gehören Lee "Scratch" Perry und Adrian Sherwood. Sound-Effekte wie Dub und Echo wurden von ihnen genauso integriert wie Crossover-Elemente aus Punk, Pop, Blues, Folk und elektronischer Musik.

Der Sound-Derwisch Adrian Sherwood arbeitete mit Horace Andy erstmalig für "Midnight Rocker" zusammen. "Midnight Scorchers" ist nun die Fortsetzung, wie auch eine partielle Neubearbeitung des "Midnight Rocker"-Albums vom April 2022. Bei der Zusammenarbeit legt sich Sherwood produktionstechnisch mächtig ins Zeug, um die Individualität des Reggae-Veteranen, der seit über 50 Jahren im Geschäft ist, herauszustellen und ihn trotzdem in einem innovativen Licht dastehen zu lassen. Dabei übertreibt er es nicht mit Experimenten - wie manchmal auf seinen zahlreichen Veröffentlichungen des On-U-Labels - sondern verschafft dem ehrwürdigen Musiker ein dynamisches Vehikel, um sich ausleben zu können, ohne sich anpassen zu müssen. Dadurch wirkt Horace Andy, als sei er in einen Jungbrunnen gefallen, denn er gebärdet sich herausfordernd und weise. Die unterschiedlich arrangierten Stücke zeigen nicht nur diverse Reggae-Spielarten auf, sondern eben auch vielfältige, kreative Berührungen gegenüber anderen Genres.

Das verhaltene Tempo von "Come After Midnight" trägt zu dem verzückten Eindruck bei, den die verspielten Dub- und Echo-Effekte und die eingestreuten entrückten Geigen- und Synthesizer-Schwaden hinterlassen. Dub-Reggae trifft auf Barock- und Psychedelic-Pop. Dagegen macht "Midnight Scorcher" mit seinen mächtig dröhnenden und pumpenden Klängen auf dicke Hose. Melodika-Töne bringen versöhnliche Schwingungen mit ein, aber dennoch pulsiert der Track unaufhörlich und der wummernde Bass heizt die Stimmung durch das imitieren von brodelnder Lava kräftig auf.

"Away With The Gun And Knife" geht dann melodisch auf Schmusekurs, obwohl es textlich um die Verurteilung von Gewalt zwischen Jugendlichen geht.
Die redselige Kapitalismus-Kritik "Dirty Money Business" wird im Anschluss schwungvoll groovend dargeboten und dabei mit sehnsüchtigen Mariachi-Trompeten, aufreizend klappernden Percussion-Instrumenten sowie mit lustigen Geräuschen garniert.

"Rock To Sleep" von "Midnight Rocker" ist die Vorlage für "Sleepy’s Night Cap", das im Gegensatz zum Original ohne Gesang auskommt. Der dreiminütige Track erhält durch seine sanfte, von grauen kammermusikalischen Einschüben und einer hoffnungsvollen Melodika getragenen Melodie eine wohlige Roots-Reggae-Gemütlichkeit, die universelle Soundtrack-Qualitäten zutage fördert.

"Feverish" pflegt durch den Einsatz akustischer Instrumente, wie einer Posaune, bewährte Ska-Traditionen, lässt sich aber auch durch Space-Geräusche in eine futuristische Umlaufbahn katapultieren.
Die Cover-Version des Rhythm & Blues-Protest Song-Klassikers "Ain’t No Love In The Heart Of The City" von Bobby "Blue" Bland aus dem Jahr 1974 wird von Horace Andy als funkiger Dub-Reggae mit verschleiernden Streichern und Trommeln, die eine innere Unruhe ausdrücken, interpretiert.

Mit "Dub Guidance" hat Horace einen seiner früheren Songs überarbeitet. Wie der Name vermuten lässt, wird hier ordentlich Hall und Echo eingesetzt. Der Track wildert aber auch auf Spaghetti-Western-Terrain, so dass eine knisternde, von exotischen Sounds und Wehmut geprägte Klang-Landschaft entsteht. "More Bassy" bewegt sich danach gemütlich-gemächlich im Schunkel-Takt, ohne dabei außergewöhnliche Akzente zu setzen.

"Hell And Back" erinnert an die 
balladesk-spirituellen Songs von Bim Sherman, die auch von Adrian Sherwood gefühlvoll, mit sakralem Hintergrund produziert wurden. Bei "Hell And Back" sorgt die Melodika für Geschmeidigkeit und Blechbläser tragen sie mit Fernweh-Feeling in die Welt hinaus. Die häufigen Spielereien von Sherwood werden so geschickt eingesetzt, dass sie dem Stimmungsbild Würze verleihen, ohne den Flow aus den Angeln zu heben.

Der 1951 in Kingston, Jamaica, geborene Horace Andy ist eine Institution des Reggae. Bereits 1967 nahm er seine erste Single "Black Man`s Country" auf und 1972 hatte er mit "Skylarking" seinen größten Hit. Das sind zwei Beispiele seiner sozialkritischen Songs, die er damals noch mit hoher, femininer Stimme vortrug. Heute ist sein Gesang entschlossen und bedeutungsvoll. Im Laufe seiner Karriere hat der Musiker einige Reggae-Subgenres wie Dub, Ska, Rock Steady, Lover's Rock und Dancehall bedient, was ihn auf die Trip-Hop Mitbegründer Massive Attack aus Bristol aufmerksam machte, die ihn als Gastsänger zum Beispiel für "One Love" von "Blue Lines" aus 1991 rekrutierten. Eine Begegnung, die ihn quasi für die Arbeiten mit Adrian Sherwood vorbereitete, da sie sein Ohr für Strömungen außerhalb des Reggae schärfte. 

Sherwood, der sieben Jahre jünger als Andy ist, gilt als innovativer Workaholic und unkonventioneller Sound-Designer, der Ende der 1970er Jahre im Zuge des Post-Punks mit seiner experimentierfreudigen Produktions-Mischung aus effektvollem Dub-Reggae, druckvollem Rock und Dancefloor-tauglichen Rhythmen auffiel, die er für sein On-U-Sound-Label kreierte und mit Band wie den New Age Steppers, African Head Charge und dem Dub Syndicate umsetzte. Sein Ruf als kreativer Querdenker brachte ihm noch Produktions-Arbeiten für Depeche Mode, Einstürzende Neubauten oder Simply Red ein.

Die Kombination des erfahrenen, Instinkt-gesteuerten Horace Andy mit den geisterhaft-verspielten Produktionen von Adrian Sherwood erweist sich jedenfalls als Glücksfall, weil dabei Songs entstanden sind, die auf eine traditionelle Art Harmonie-verliebt sind, aber auch ungewöhnliche, originelle Bestandteile aufweisen. Eine seltene, aber sehr willkommene Paarung!

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