Kenneth Minor - Retirement

Kenneth Minor sind zu gut für die Charts und viel zu agil für den Ruhestand.

Wer ist nur dieser Kenneth Minor? Zumindest taucht er nicht als Musiker auf "Retirement" auf, denn hier spielen Bird Christiani (Gesang, E-Gitarre, akustische Gitarre, Lapsteel), Andreas Lüttke (Bass) und Florian Helleken (Schlagzeug, Percussion, Keyboards).
Credit: Joyce Abrahams
 
Eventuell hat Bandgründer Bird Christiani sein Song-Vehikel nach einem Beteiligten in einem kuriosen Kriminalfall benannt: Kenneth Minor wurde 2011 in New York angeklagt, Jeffrey Locker durch Messerstiche ermordet zu haben. Minor behauptete aber, Locker hätte ihn angestellt, um seinen Selbstmord zu inszenieren, damit die Lebensversicherung über 4 Millionen Dollar an seine Familie ausgezahlt wird. Die Geschworenen konnten von dieser Variante überzeugt werden, trotzdem wurde der assistierte Suizid zunächst als Mord eingestuft und später in Totschlag zweiten Grades umgewandelt. Die Familie von Jeffrey Locker profitierte allerdings nicht von seinem tödlichen Vorhaben: Weil er beim Abschluss der Versicherung sein Jahreseinkommen mit 800.000 Dollar angab, obwohl er hoch verschuldet war, wurde die Auszahlung nicht fällig. 

Kurios ist die Musik auf dem dritten Album von Kenneth Minor nicht, aber auch nicht vom Ruhestand geprägt, wie der Titel vermuten ließe. Das Trio steht voll im Saft und feiert mit ihren zwölf neuen selbstsicheren Roots-Rock beeinflussten Songs, denen auch West-Coast-Rock-Streifzüge und Ausflüge ins Rockabilly-Lager nicht fremd sind, das zwölfte Jahr ihrer Veröffentlichungs-Karriere.

"Down In Our Hearts" verbreitet die Schwüle des Swamp-Rock, wie er von Creedence Clearwater Revival ("Run Through The Jungle") zuweilen erschaffen wurde und fühlt sich auch in der gelassenen Stimmung vieler J.J. Cale-Songs wohl.
"Down In The Spine" scheint direkt aus der Garage der Paisley-Underground-Ikone Steve Wynn zu kommen. Deftige Gitarren sorgen für Aggressivität und Tatkraft, ein Piano spielt den Good-Time-Boogie und Bird Christiani bringt mit seinem jugendlich-sorglosen Power-Pop-Gesang kühne Unbeschwertheit ein.
Mit "Always" wird der grade aufgenommene Power-Pop-Faden weitergesponnen, so dass der Track auch wegen der im Hintergrund wütend bellenden Gitarren vor Lebenslust sprudelt.
Zwischen Jazz- und Spaghetti-Western-Ballade bewegt sich "From What We Know", ohne dabei rührselig oder schmalzig zu sein.
The Gun Club um Jeffrey Lee Pierce war sowohl dem Punk wie auch dem Blues, dem Country und dem Rockabilly verpflichtet. Bissig, wütend und entschlossen haute Pierce seine frenetisch gesungenen, zischelnden Kompositionen ohne Rücksicht auf Verluste raus. Die Lieder "Crew Love`s Coming" 
und "When It`s All Gone" sind da etwas reservierter, schlagen aber grundsätzlich in die gleiche Kerbe.
Ganz entspannt-unaufgeregt läuft dagegen "Is This The World We Are Living In?" ab, ein stabiler Folk-Rock-Song voller besorgter Empathie, der sich nicht aus der Ruhe bringen lässt.
Der auf die liebliche Melodieführung fein abgestimmte, hüpfende Rhythmus zeichnet "The Day She Came By" aus und führt zu einer entspannten Atmosphäre. Pop meets Folk meets Brass-Rock.
Liebe und akzeptiere deine Dämonen, dann ist das Leben leichter, so könnte die Moral von "All Your Demons" lauten. Dieser von Neil Young beeinflusste Folk-Rock zieht alle Register, um Sympathie, Eingängigkeit und Individualität zu vereinen.

"Tears Don`t Dry In Rainy Seasons" ist ein lebhafter, pulsierender Rock & Roll, wie er auch manchmal von Bob Dylan & The Band wie beiläufig, aber hochintensiv abgesondert wurde.
Gleichförmig, sich langsam hinsichtlich des Klangvolumens steigernd, pflegt "You" die Kunst des Unspektakulären, ohne dabei langatmig oder langweilig zu sein.

"Pictures" lebt von Gegensätzen: Zuerst zeigt sich das Stück ausgeglichen-ruhig, um dann später zu bersten. Auf anarchische Weise zerstören schreiende Gitarren und ein kreischendes Saxophon die Harmonie. Yin & Yang. Freude & Leid. Einklang & Terror.

"Retirement" ist klasse! Ohne Wenn und Aber. Das Hitpotential liegt hier nicht in oberflächlichen Anbiederungen, sondern in der nachhaltigen Wirkung aufgrund von beglückenden Schwingungen. Wer mit den genannten Referenzen etwas anfangen kann, der wird nicht enttäuscht werden. Das Album ist abwechslungsreich, hat überraschende Wendungen parat, besticht durch Coolness bei gleichzeitig hellwachen Aktionen, die ein breites Emotionsspektrum abdecken. Bird Christiani ist ein kluger Frontmann und seine Begleiter sind wie ein Schatten und eine schützende Decke oder sie verbreiten gewollte Störfeuer für ihn. Grade so, wie er ihre Dienste benötigt.  

Der echte Kenneth Minor muss (vorsichtig ausgedrückt) ein merkwürdiger Typ sein, wenn er meint, dass er jemandem einen Gefallen erweist, wenn er ihn umbringt (auch wenn es auf Verlangen passiert sein sollte). Das wäre ein schräges Vorbild für eine Band, deren Musik zu gut für die Charts ist, weil sie aufrichtig und ohne Effekthascherei auskommt. Gut möglich, dass "Retirement" in ein paar Jahren aufgrund eines Rückblicks auf 2022 tierisch abgefeiert wird. Das nützt den Künstlern nur im Augenblick nicht viel. Besser ist, sie jetzt zu hören, zu genießen und sie zu loben, was hiermit passiert ist!

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