Sarah Davachi - Two Sisters

Zurückhaltung und Gleichgewicht: Sarah Davachi praktiziert die Kunst der ästhetischen Reduzierung.

Es ist Herbst. Die Tage werden kürzer, die Dunkelheit triumphiert über das Licht und die Gedanken werden schwerer. Zeit, um schattig-düstere Musik zu genießen.

Die 1987 in Kanada geborene Sarah Davachi ist eine Sound-Forscherin, die derzeit in Los Angeles lebt. Sie erzeugt Tongebilde, welche den Rahmen des Hit-Radio-Formats schon aufgrund ihrer Länge und ihrer speziellen strukturellen Beschaffenheit sprengen. Ihr zehntes Werk "Two Sisters" passt wegen seiner gedämpften Grundstimmung gut zur trüben Jahreszeit, auf Partys wird man diese Kompositionen dagegen eher weniger antreffen...
Bei "Hall Of Mirrors" geben warme Brummtöne die schattig-jenseitige Stimmung vor. Dazu erklingen in unregelmäßigen Abständen unterschiedlich voluminöse Glocken, die zum Tasteninstrument Glockenspiel gehören. Das hier verwendete Instrument ist das drittgrößte seiner Art, wobei die schwerste Glocke ungefähr 12 Tonnen 
wiegt. Deshalb sind die Sounds so mächtig wie Kirchenglocken. Bei diesem Stück entsteht pure Atmosphäre, ohne Melodie oder Refrain. 

"Alas, Departing" verbreitet danach nur mit 
weiblichen und männlichen Stimmen sakrale Eindrücke, die gregorianischen Gesängen nicht unähnlich sind. Durch die Anziehungskraft dieser verbundenen Töne wird eine förmliche, theatralische Ergriffenheit bewirkt.
Leise schleichen sich eintönige, gleichbleibende Laute in das Gefüge von "Vanity Of Ages" ein. Die Tonlagen verändern sich nur langsam. Die Zeit friert ein, die Frequenzen zwingen zum Zuhören oder zum Aufgeben. Je nach persönlicher Befindlichkeit. Man muss auch mal was aushalten können, um im Anschluss neue Erkenntnisse zu bekommen! Das Dröhnen und Rauschen der Orgel-Pfeifen kann nervtötend sein, aber auch zum konzentrierten Entspannen zwingen. Spätestens diese 10 Minuten entscheiden darüber, ob "Two Sisters" weitergehört wird oder nicht. 

Die Reduktion der Klangfarben wird mit "Icon Studies I + II" fortgesetzt. Leicht an- und abschwellende Ton-Schwaden hinterlassen einen Eindruck von Eiszeit oder Ewigkeit. Ist das die Basis von bewusstseinserweiternden Vibrationen?

Wie klingt Bronze? Wenn es nach "Harmonies In Bronze" geht, nach einer in sich ruhenden Legierung, die sich nicht zu wichtig nimmt, die spirituell veranlagt ist und für die die Zeit keine Bedeutung hat. Und wie klingt das Grün? Wenn es nach "Harmonies In Green" geht, etwas satter und runder als Bronze, aber ähnlich ehrwürdig.

Es hört sich wie ein weit entferntes Nebelhorn an, wenn "En Bas Tu Vois" seine Signale absetzt. Auf Antwort wird vergeblich gewartet, das ist das Schicksal vieler Wächter und Mahner.
Neben bedächtigen Ton-Schwaden kommen bei "O World And The Clear Song" nach etwa 7 Minuten wie zu Anfang wieder Glocken zu Gehör. Keine imposant-einflussreichen Glocken, sondern kleinere, die vom Wind bewegt werden können, deren Klangfülle also fremdbestimmt sein kann.

Obwohl sich "Two Sisters" nach der Tugend Mäßigung ausrichtet, die zwischen den Gegenpolen (oder Schwestern) Leidenschaft und Zurückhaltung gefangen ist - wie es Sarah Davachi ausdrückt - bietet das Album ein erhebliches Instrumentarium auf, das neben dem erwähnten Glockenspiel, dem Harmonium und dem Chor noch aus einem Streichquartett, tiefen Holzbläsern, einem Posaunenquartett und elektronischen Instrumenten besteht. Der scheinbare Stillstand mancher Kompositionen sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Noten in einer ständigen Bewegung befinden. Die Veränderungen finden eben nur sehr langsam statt und sind nur beim konzentrierten Hören unmittelbar wahrzunehmen. Das ist das Urprinzip der Minimal-Art-Music, wie sie zum Beispiel von Steve Reich ersonnen wurde. 

Was ist Musik? Zunächst einmal sind es Schwingungen, die eine Zustandsänderung hervorrufen. Dann kann also auch das Brummen eines Kühlschranks, das Pfeifen einer Klimaanlage, das Zwitschern der Vögel oder das Rauschen des Windes Musik sein. Sarah Davachi beschäftigt sich unter diesem Aspekt zum Beispiel mit den Eigenschaften und Wirkungen von Klangfarben sowie mit psychoakustischen Phänomenen, worüber sie auch promoviert. Entsprechend sind ihre Ton-Anordnungen auf "Two Sisters" nicht als esoterisch-benebelnde Geräusche einzustufen, sondern als wissenschaftlich fundierte, ausgeklügelte Schwingungen, die einen Sinn ergeben. Der Hörer soll im Gegensatz zur esoterischen Beschallung mental wach bleiben und freigeistig erleben, was der akustische Vorgang mit ihm macht: Spürt er nichts, wird er unruhig oder werden die Gedanken beflügelt? Alles ist möglich bei diesem herausfordernden elektroakustischen Experiment.

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