Nils Frahm - Music For Animals

"Music For Animals" verbreitet minimalistisch aufbereitete, lange nachwirkende Moll-Töne, die suggestive Qualitäten aufweisen.

Nils Frahm hat die Pandemie-Zeit kreativ genutzt: Von 2020 bis 2022 nahm er das etwas über 3 Stunden lange Werk "Music For Animals" auf, seine ersten Studioaufnahmen seit "All Melody" (2018) und der Ergänzung "All Encores" (2019).
Auf drei CDs bzw. 4 LPs verteilt der angesagte Electronic-Music-Spezialist aus Berlin 10 neue Tracks, bei denen er vollständig auf den Einsatz seines geliebten Pianos verzichtet. Für Nils Frahm haben die Stücke von "Music For Animals" eine ähnliche Bedeutung wie Klanginstallationen: "Meine ständige Inspiration war, sich etwas ähnlich Hypnotisierendes wie einen riesigen Wasserfall oder die Blätter eines Baumes im Sturm anzuschauen. Es ist gut, dass wir Symphonien und andere Musik hören können, die eine gewisse Entwicklung haben. Aber der Wasserfall und die Blätter brauchen keinen ersten, zweiten oder dritten Akt und keinen Höhepunkt. Manche Leute sehen einfach gerne zu, wie das Wasser fällt, hören die Blätter rascheln und beobachten, wie sich die Äste bewegen. Dieses Album ist für sie."

Der Titel "Music For Animals" soll ironisch gemeint sein, weil es modern ist, für jederlei Situationen Playlists zu erstellen. Diesen Trend wollte Frahm mit dem Titel verhöhnen. Die Musik soll also keine Gebrauchsmusik sein, bietet aber im Sinne der eben erwähnten Inspirationserklärung dennoch eine Vorlage zum sich fallen lassen oder zur konzentrativen Selbstentspannung oder Sinnesschärfung an. Die Basis für diese Sounds liegt sowohl im Krautrock (Harmonia, Neu!), wie auch in der Minimal-Art-Musik von Philipp Glass oder Steve Reich.

In den 26 Minuten von "The Dog With 1000 Faces" wallen Schwebetöne auf und ab, sie erscheinen und verschwinden wie Nebelschwaden bei einer Autofahrt im morgendlichen Herbst. Rhythmen ploppen, klopfen, tropfen und hämmern wie im Trab, nicht übermäßig laut, aber beständig. Sirenen scheinen leise im Hintergrund zu singen. Der Ablauf ändert sich nur gemächlich, die Stimmung bleibt andächtig, mit einem wachen Blickwinkel auf das gegenwärtige Geschehen.
Aufgrund von fehlenden Rhythmen wirkt "Mussel Memory" weltabgewandt und verbreitet eine Grabes-Stimmung. Das ständig präsente elektronisch erzeugte Rauschen, Summen und Brummen lässt die Zeit stillstehen und friert jegliche Freude ein. Totensonntags-Beschallung.
Das Dröhnen in "Seagull Scene" enthält ein unheilvolles Rumoren, das in mehreren Schichten aufgebaut wird und eine zähe, undurchlässige Klang-Wand bildet.
Für das epische, fast 25 minütige "Sheep In Black And White" werden rhythmische Effekte erzeugt, die Hall und Echo einbeziehen. Das klingt dann nach Dub-Reggae ohne Reggae-Rhythmus. Das Körperliche des Reggae wird dabei eliminiert, aber das Experimentelle bleibt.
Bei "Stepping Stone" gehört ein Grundrauschen mit zum kompositorischen Konzept, dass durch seine ausgedehnte meditative Exotik auch zum Repertoire von Mark Hollis (Talk Talk) oder David Sylvian (Rain Tree Crow, Japan) gehören könnte.
Ausgerechnet das mit 27 Minuten Laufzeit längste Stück wurde "Briefly" genannt. Ist das auch ein spezieller Gag von Nils Frahm, der sich an Leute wendet, die nur eben kurz mal was klären wollen und dann kein Ende des Gespräches finden? Musikalisch setzt der Track bei den folkloristischen Weltmusik-Elementen aus "Stepping Stone" an, peppt hier aber die künstlichen Holzbläser und Percussion-Instrumente monoton-fließend auf.
Die synthetisch erzeugten, primitiv-gleichförmigen Synthesizer-Trommeln von "Right Right Right" verbreiten durch ihren belebenden Herzschlag-Rhythmus sowohl konsequenten Tatendrang, wie auch eine verlässliche Sicherheit durch die wiederkehrenden Abläufe.
"World Of Squares" bedient sich einer ähnlich berauschenden Wirkung, wie sie der Psychedelic-Rock ausüben kann, indem nämlich aufputschende Grundformen wiederholt werden und sich ständig überlagern, was zu einem berauschenden Tonwirbel führt.
Hingegen verfügt "Lemon Day" über eine tänzelnde Komponente, die die Bits und Bytes vor dem geistigen Auge hüpfen lässt. Pure Lebensfreude kommt aber nicht auf, da sich über die positive Grund-Stimmung ein grauer Ton-Schleier legt.
Für "Do Dream" arbeitet Nils Frahm ausschließlich mit der assoziativen Wirkung von trüben, aufsteigenden und verwehenden Klangeindrücken. Es bleibt nur ein diffuser Ausblick auf eine Melodie zurück und deshalb werden die Erwartungen auf einen aufkommenden harmonischen Ablauf immer wieder zerstört.

Neben Max Richter ("Sleep") gehört Nils Frahm zur Garde der jüngeren, scharfsinnigen Avantgarde-Generation, die ihre Kompositionen so ausrichten, dass sie den Verführungen des esoterischen Verschleierns und der kopflastigen Selbstdarstellung aus dem Weg gehen. Das öffnet ihnen eine individuelle Nische, die sie für ein breiteres Publikum interessant werden lässt. Schließlich kletterte "All Melody" von Nils Frahm bis auf Platz 15 der deutschen Album-Charts.

Der Veröffentlichungs-Termin (23. September 2022) von "Music For Animals" könnte kaum besser gewählt sein: Der Sommer hat sich verabschiedet und der Herbst bereitet mit seiner Kühle und den kürzer werdenden Sonnenstunden auf die dunkle Jahreszeit vor. "Music For Animals" ist mit seinen sich Zeit nehmenden, uneitlen, bedächtigen Kompositionen der ideale Soundtrack für diesen Übergang.

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