Kitty Liv - Easy Tiger (2024)

Kitty von Kitty, Daisy & Lewis ist erwachsen geworden.

 
Es gibt drei Geschwister, die vom analogen Retro-Sound der 1950er- und 1960er-Jahre besessen sind und schon als Teenager von 2008 bis 2017 gemeinsam erfolgreich Alben aufnahmen. Zunächst begnügten sich Kitty, Daisy & Lewis Durham mit originellen Cover-Versionen aus dem Rockabilly-, Rhythm & Blues- und Pop-Universum, später schufen sie auch eigene Kreationen mit Retro-Charisma, die tanzbar, aber nicht zu glatt produziert wurden.

Nun sind die Teenager von einst erwachsen geworden und genauso hört sich "Easy Tiger", das Solo-Debüt von Kitty Liv, an. Der Ausspruch "Easy Tiger" ist gebräuchlich dafür, wenn wir möchten, dass sich jemand beruhigt, nicht überreagiert oder etwas nicht überstürzen soll. In diesem Sinne sind die von Kitty interpretierten Stücke als gepflegtes Entertainment, ohne Aggressionen oder musikalische Experimente, anzusehen. Die erfahrene Musikerin bedient ein weites Spektrum an persönlichen Vorlieben und setzt ihre wohlklingende, kräftig-frische Stimme als kenntnisreiche Botschafterin von Vintage-Klängen ein. Sie orientiert sich dabei an bewährten Mustern, die aus der Plattensammlung ihrer Eltern und aus eigenen Erfahrungen entspringen. Kitty Liv betätigt sich aus diesen Eindrücken heraus als Retro-Pop-Allrounderin und präsentiert zehn selbst verfasste Liebes(leid)lieder, von denen einige inhaltlich von Tragik gekennzeichnet sind. Musikalisch und produktionstechnisch wird sie dabei tatkräftig von ihrem Bruder Lewis unterstützt.
Credit: Dean Chalkley

Der laszive Überbau von "Sweet Dreams" legt sich auch auf die Stimme von Kitty, ohne dass sie in billigen Sex-Kitsch verfällt. Sinnlichkeit und Verführungskunst sind es, die die Emotionen hier zum Glühen bringen. Der Track groovt aufreizend-fordernd, ohne ungezügelt überzukochen. Es bleibt dennoch genügend Raum für schlüpfrige Fantasien übrig. Pop und Funk suchen nach einem Spielplatz, auf dem sich Eleganz, Verlangen und purer Spaß vereinen und unbeschwert auslassen können.

Was sich als fröhlich-frecher, geradezu alberner Pop-Song herausstellt, versteckt textlich einen ernsten Hintergrund. Bei "Neck On The Line" heißt es nämlich: "Du sagst, du willst mit mir zusammen sein. Aber dann ziehst du dich zurück und führst mich in die Irre. Wenn du nicht willst, dass ich dich hasse, dann schlage ich vor, dass du aufwachst und aufhörst, meine Zeit zu verschwenden."

"Und ich brauche keine Droge. Nur einen Kuss und eine Umarmung". So bescheiden, reduziert auf die wichtigen Dinge im Leben zeigt sich Kitty Liv in "Comin’ Up". Der Song rochiert mit stilistischen Kabinettstückchen: Ein verlockender Gummiband-Bass; Gitarren, die Folk-, Country- und Jazz-Aromen einfließen lassen; ein Schlagzeug, das flexibel als
Klebemittel zwischen den Einfällen fungiert und eine Stimme, die bei aller Vielfalt locker und gelöst bleibt - das sind die reizvollen Zutaten zu einem beschwingten Pop-Song, dessen Bestandteile aus der Pop-Geschichte schmackhaft zusammengetragen wurden, ohne dass das Ergebnis umständlich oder verworren wirkt.

Das ist tragisch: "Ich will dich nur, um mich vor der Einsamkeit zu retten", gesteht die Protagonistin am Anfang von "Nothing On My Mind (But You Babe)". Dann gibt sie zu, dass sie abhängig von seiner Liebe geworden ist. Diese Problematik wird in einen flotten Philadelphia-Soul gekleidet, der keinen Zweifel an dem vorgetäuschten starken Willen aufkommen lassen soll. Ein toller, hochenergetischer Song!

Manchmal scheitern Beziehungen daran, dass sich die Partner unterschiedlich (schnell) entwickeln. Bei "The River That Flows" scheint solch ein Fall vorzuliegen: "Und ich kann nicht mehr so sein wie früher. Und es hat keinen Sinn, sich zu beschweren, wenn die Welt sich ständig verändert." Dieses Lied bezieht sich auf Country-Folk- und Country-Swing-Wurzeln und kommt sowohl nachdenklich als auch beflügelt daher.

Der Funk von
"The Sun And The Rain" hinterlässt einen unverbindlichen Eindruck. Er ist weder federnd-galant (wie bei Little Feat), noch dreckig-bissig (wie der von Betty Davis), sondern beherrscht-zurückhaltend. Deshalb bekommt er das Attribut "Weder Fisch noch Fleisch". Das passt zu dem unkritischen Text, der sich lediglich mit einer Schilderung über die Sehnsucht nach dem Angebeteten und der Angst vorm Verlust beschäftigt.

Bei "The Doctor" geht es im weitesten Sinne um eine nicht zu erwartende und deshalb doppelt schmerzende Trennung. Das Stück ergießt sich aber nicht in Selbstmitleid, sondern zeigt sich geläutert, versprüht zwar etwas Bitterkeit, wirkt aber dennoch zukunftsorientiert-optimistisch.

"Lately" umfasst das Protokoll einer bevorstehenden Trennung: "Nebenan schlafend kann ich dich immer noch schnarchen hören. Ich bin zu müde, um zu kämpfen, wir werden heute Nacht nicht reden." Gut, dass es die Musik als Ausdrucksform gibt! So kann man selbst aus solch einer Situation noch eine kraftvoll-coole, hoffnungsvolle Stimmung destillieren.

Jetzt kommt eine Nebenbuhlerin ins Spiel: "Nimmt sie deine Wäsche raus und hängt sie auf die Leine? Bewahrt sie alle ihre Schlüpfer in der Schublade auf, die einmal meine war? Dreht sie sich in der Nacht auf deine Seite des Bettes? Weiß sie von den Rätseln, die dir durch den Kopf gehen?", fragt sich die Verlassene und gibt zu: "Jeden Tag gehe ich an der Wohnung vorbei, die wir uns früher geteilt haben und stelle mir vor, wie du die Betontreppe hinuntergehst". Das sind schlimme Seelenqualen, die sich in "Passing You By" auftun und mit einem munteren Folk-Swing heruntergespielt werden. Aber die Streichinstrumente im Hintergrund verkünden, dass die Wirklichkeit heftig an der Erzählerin nagt. Gesanglich lässt sie sich aber nichts anmerken. Ganz im Gegenteil: Sie spielt die Unerschütterliche.

Für "Keep Your Head Up High" schlägt die Stimmung nochmal um. Ist es die psychisch Verletzte, die sich als selbstlose Trostspenderin entpuppt? "Ich möchte, dass du weißt, dass alles in Ordnung ist. Denn, Liebling, ich weiß, dass du in letzter Zeit niedergeschlagen bist. Aber du musst deinen Kopf hochhalten". Der Titel riecht am Blues, verfällt dem dunklen Chanson und findet sich im lebhaften Pop wieder.

Bei aller Perfektion transportierten die Kitty, Daisy & Lewis-Stücke über vier Alben hinweg ("Kitty, Daisy & Lewis", 2008; "Smoking In Heaven", 2011; "The Third", 2015; "Superscope" 2017) auch immer ein Stück vom Geist des Rock ’n’ Roll, hatten also Biss und Schärfe und waren nicht hochglanzpoliert. Etwas Dreck konnte man sogar bei den Balladen zwischen den Noten entdecken. "Easy Tiger" verfolgt ein anderes Konzept und lässt diese Konsequenz oft vermissen. Es ist das gute Recht von Liv, dass sie sich als Solo-Künstlerin anders, nämlich breiter und gefälliger orientiert und aufstellt. 
 
Schließlich muss sie ohne ihre Geschwister ihren eigenen Stil finden, der bei "Easy Tiger" aber noch nicht endgültig zu erkennen ist. Sie versucht viel, lässt sich auch auf massentaugliche Varianten ein, verprellt dadurch eventuell alte Fans von Kitty, Daisy & Lewis, positioniert sich aber als Allrounderin, die in alle Richtungen offen ist. Es ist also hinsichtlich einer raueren Ausrichtung noch nichts verloren und stilistisch ist noch alles drin. Warten wir also wohlwollend ab, wie es mit der Karriere von Kitty Liv weiter geht.

Liv hat eine einschneidende, hässliche Liebesbeziehung hinter sich, die prägend war, was man fast aus jedem Text bei "Easy Tiger" heraushören kann. Es geht um unerfüllte Wünsche, falsche Erwartungen und eine enttäuschte Liebe. So etwas schüttelt man als sensibler Mensch nicht einfach ab. Hoffen wir mal, dass Kitty Liv die selbst beschwörende Verarbeitung ihrer Krise zur Bewältigung ihres Traumas geholfen hat.

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