Musik-Rezensionen und Musiker-Portraits aus den Gebieten: Individuelle Singer-Songwriter, Soul, Jazz, Blues, Folk, Rock, Country, Art-Rock und Pop.
Tindersticks - Soft Tissue (2024)
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Die
einzige Konstante im Leben ist die Veränderung.
Die Tindersticks sind nicht mit wenigen Worten zu beschreiben oder zu begreifen. Sie sind Sound-Künstler, um nicht zu sagen bildende Künstler. Denn ihre Musik ist als Gesamtkunstwerk aus Tönen, Texten, Emotionen und deren Zusammenspiel zu sehen. Kontraste und gleichbleibende Wiedererkennungswerte spielen bei der Konstruktion der Kompositionen genauso eine wichtige Rolle wie Experimente und harmonische Komponenten. Manie und Depression sind die Eckpunkte, zwischen denen sich die intensiv übertragenen Gefühlsäußerungen abspielen.
Das Aushängeschild der Gebilde ist dabei stets der erschütternd sensible Gesang von Stuart A. Staples, der die Gruppe unverwechselbar macht. Seine sonor-nasale, ausdauernd leidende Stimme besitzt eine unermüdliche Neigung dazu, aus einer konstruktiven Melancholie heraus Kraft zu schöpfen. Dabei bringt Staples auf köstliche Weise triefend-herzzerreißend schöne Töne hervor, die jeden Sensiblen zu Tränen rühren können.
Credit: Julien Bourgeois
Innerhalb ihres eigenwilligen Raum-Zeit-Kontinuums strebt die Band mit „Soft Tissue“ einmal mehr und dieses Mal sehr deutlich nach Ausweitung des Klanghorizontes. Ihre Auffassung von sinnlich-lasziver Leidenschaft, cremigem Soul und bewusstseinserweiterndem Art-Pop verschafft den Songs einen speziellen Glanz sowie majestätische Würde und lässt manche Lieder von innen heraus strahlen und pulsieren, sodass Licht und Schöpfungskraft letztlich über die Dunkelheit triumphieren können. Die acht neuen Stücke fangen eine Stimmung ein, die zwar reich an schwermütigen Klängen ist, aber dennoch Zuspruch, Lebensfreude und sogar eine gewisse Leichtigkeit ausdrücken.
Credit: Neil Fraser
Aufrüttelnde Bläser-Fanfaren und ein stabiler Rhythmus-Teppich künden "New World" großspurig an, fallen aber nach kurzer Zeit in sich zusammen. Das E-Piano dehnt dann hübsch und sauber die Zeit, während sich die gesamte Formation neu formiert. Ein cool-hypnotischer Groove bestimmt den weiteren Verlauf und Stuart Staples betätigt sich als Stimm-Magier, um seine Zuhörer und Zuhörerinnen sanft zu einem überraschenden Gefühlsausbruch zu begleiten, auf den niemand richtig vorbereitet wird. Plötzlich verstärkt nämlich die forsche, prächtige Stimme von Gina Foster kurz den Gesang und hebt den Song aus einem ätherischen Verweilen heraus und hinein in eine zupackende Richtungsänderung. Diese kontrastreiche Vorgehensweise wiederholt sich, wodurch der Track auf suggestive Weise einen nachhaltigen Ohrwurm-Charakter erhält. Die Moral des Liedes scheint zu sein, dass sich ständig alles im Wandel befindet, aber die veränderte Welt nicht immer leicht zu verstehen und zu akzeptieren ist. Besonders, wenn durch eine Neuordnung Moral und Ethik auf dem Kopf zu stehen scheinen. Aber dennoch wird der Sänger nicht von seinen Überzeugungen abweichen ("Ich werde nicht zulassen, dass meine Liebe zu meiner Schwäche wird" / "I won't let my love become my weakness.")
Leidenschaft und Sehnsucht bestimmen die Gefühlswelt von "Don't Walk, Run", das stilistisch von schwülem Stax-Funk und schwülstigem Philly-Soul geprägt wird. Diese Funk-Soul-Herrlichkeit wurde in ein stoisches Klacken eingebettet, über das Stuart sein Flehen und Leiden schmachtend-traurig ausbreitet. Das ganze sinnlich-ergriffene Konstrukt, welches Trennungsschmerz in Töne fasst, entbehrt dabei nicht einer von Geheimnissen umwitterten Dramatik, sodass sich Anspannung und zarte Romantik die Waage halten.
"Nancy" ist ein Gemisch aus einem oszillierenden, elektronischen Fake-Bossa-Nova und einer idyllischen Jazz-Ballade, aus dem man durch kurze eruptive Ausbrüche aufgeschreckt wird. Nancys Schweigen wiegt beim Erzähler schwerer als die Vorstellung der Auswirkungen eines Streitgesprächs. Die Essenz des Textes ist laut Aussage der Band, dass jemand eine Beziehung vermasselt hat und nun um Verzeihung bitten will.
Für "Falling, The Light" wird Ruhe und Frieden in Noten gegossen. Der Track verströmt eine innige Verbindung zwischen den Tönen und den Worten, ist letztlich mehr eine Andacht als ein Song.
"Always A Stranger" vermittelt unterschwellig den Schwung und den Tatendrang einiger Rockabilly-Aufnahmen aus den 1950er-Jahren, wie es zum Beispiel bei Elvis Presleys "Mystery Train" erlebt werden kann. Wobei die Tindersticks diese Energie kanalisieren und für ihre Zwecke so transformieren, dass der Groove geschmeidig bleibt und nicht überschäumt. Das Stück ist inhaltlich von ungestillten Erwartungen und einer starken Verunsicherung durchdrungen: "Meine Liebe steht in Flammen und ich fühle mich immer noch wie ein Fremder" / "My love is in flames and I'm always a stranger."
Atmen bedeutet Leben. Atmen bedeutet auch Vertrauen, Vertrauen, dass die Luft, die uns erhalten soll, nicht schädlich für uns ist. Was nicht selbstverständlich ist, denn laut der Weltgesundheitsorganisation sterben nämlich jährlich weltweit etwa sieben Millionen Menschen an den Folgen von Feinstaub und anderen Schadstoffen in der Luft. Tendenz: steigend. Für "The Secret Of Breathing" wurde dem wummernden Bass eine Hauptrolle zugeordnet, was der Ballade von vornherein Schwere und Tragik einhaucht. Verweht-verirrte Streichinstrumente verbreiten einschüchternden Nebel und Stuart A. Staples entfernt mit seinem herbst-grauen Gesang fast alle Farben aus den Tönen.
Ohne jegliche Zwänge noch einmal zumindest gedanklich von vorne anfangen zu können und dabei am Guten festhalten zu können. Diese Möglichkeit steckt theoretisch in jedem von uns und das triumphale Gefühl des Neubeginns muss berauschend schön sein. "Turned My Back" verfolgt ein solches Muster und zieht zur klanglichen Illustration einen Gospel-Sound heran, der als Jazz-Chanson getarnt ist. Gina Fosters beseelt-voluminöser Gesang, wallende Streicher, verdichtende Bläser, ein hypnotisierender Beat und die schmachtende Stimme von Stuart sind dominante Zutaten zu diesem komplexen, in sich verflochtenen Song.
"Soon To Be April" ist eine unspektakulär erscheinende Träumerei für diejenigen, die sich zum Beginn des Herbstes schon auf den nächsten Frühling freuen. Das Lied kommt ohne Steigerung und ohne laute oder schnelle Bestandteile aus. Es erfüllt quasi die Funktion eines Wiegenliedes: Es beruhigt und wägt die aufmerksam Zuhörenden in Sicherheit.
In der individuellen Wahrnehmung ist vermutlich oft das jeweils aktuelle Album der Tindersticks auch das bisher beste. Das würdigt die Vorgänger in keiner Weise ab, zeigt aber eindrucksvoll, dass es die Musiker verstehen, mit jeder Platte erneut zu begeistern und das Spektrum der Klänge so zu erweitern oder anzupassen, dass es trotz vieler Wiedererkennungsmerkmale immer auch überraschende Facetten zu entdecken gibt.
Stuart A. Staples steuert die Songs gesanglich - wenn nötig - in dunkle Gefilde, wo Melancholie und Leiden zu Hause sind. Das geschieht zutiefst demütig, sodass dieser Vorgang in der Regel für die Zuhörerinnen und Zuhörer sogar aufbauend wirkt. Denn geteiltes Leid ist schließlich halbes Leid. Die relativ üppig vorhandenen mild leuchtenden Momente auf "Soft Tissue" leuchten in diesem Umfeld umso prächtiger.
Es ist anzunehmen, dass mit dem "weichen Gewebe", auf das sich der Titel bezieht, der menschliche Körper gemeint ist. Auf diese Idee kann man jedenfalls kommen, wenn man auf das Cover des Albums schaut. Es wurde von Stuart Staples Tochter Sidonie entworfen und symbolisiert innige Verbundenheit und wohlige Geborgenheit.
Das Quintett aus Nottingham, derzeit bestehend aus Stuart A. Staples (Gesang), David Boulter (Keyboards), Neil Fraser (Gitarren), Earl Harvin (Schlagzeug) und Dan McCinna (Bass), ist seit 32 Jahren im Geschäft. Die Formation inszeniert ihre Musik häufig als in sich gekehrte, komplexe, intime, kammermusikalische Soundtracks für Menschen, denen Charts-Pop zu trivial und klassische Musik zu elitär ist. Bei allem vorhandenen Weltschmerz erlangen die Tindersticks auf Album-Länge nicht selten trotzdem eine bezaubernde, introvertierte Coolness. Die Klänge sind in der Lage, aus Traurigkeit Zuversicht zu zaubern und Trost zu spenden, also wahrlich zauberhafte Erlebnisse zu ermöglichen.
Viele Menschen scheuen Veränderungen im Leben. Aber Anpassungen finden dennoch ständig statt, ob wir wollen oder nicht. Auch im Kleinen. Manchmal unmerklich, weil in kleinen Schüben. So auch bei den Tindersticks. Der Wandel ist ein fester Bestandteil ihrer Musik, macht sie immer wieder attraktiv und ist ein Motor für die andauernde Faszination. Tradition, Verlässlichkeit und Innovation sind drei Eckpunkte des Schaffens der Tindersticks und lassen auch "Soft Tissue" nach den letzten großartigen Non-Soundtrack-Alben "No Treasure But Hope" aus 2019 und "Distractions" von 2021 wieder zu einem durchweg außergewöhnlich interessanten Werk werden, das den spezifischen Sound der Band sowohl ausbaut als auch triumphal weiterführt. Prädikat: Hervorragend!
Die Tindersticks gehen 2024 und 2025 auf eine ausgedehnte Tournee. Hier die vorläufigen Termine und Spielstätten:
2024
30.09. CZ Prague, Hybernia Theatre 02.10. AT Vienna, Akzent 03.10. AT Vienna, Akzent 04.10. AT Vienna, Akzent 05.10. DE Munich, Prinzregententheater 06.10. DE Leipzig, Schauspielhaus 07.10. DE Berlin, Theater des Westens 09.10. SE Stockholm, GötaLejon 10.10. NO Oslo, Sentrum Scene 11.10. DK Gothenburg, Pustervik 12.10. DK Copenhagen, KonservatorietsKoncertsal 13.10. DE Hamburg, Kampnagel 15.10. NL Eindhoven, Muziekgebouw 16.10. NL Utrecht, Tivoli 17.10. BE Brussels, Cirque Royale 21.10. UK Brighton, Dome 23.10. UK Manchester, New Century 24.10. UK Bristol, Beacon 25.10. UK Birmingham, Town Hall 26.10. UK Sheffield, Octagon Theatre 29.10. ISL Reykjavik, Háskólabíó
31.10 IT Parma, Theatro Al Parco 02.11. GR Athens - Christmas Theatre 04.11. ES Madrid, Coliseum 06.11. ES Barcelona, Palau de la Musica 08.11. PT Covilhã - Teatro Municipal da Covilhã 09.11. PT Leiria - Teatro José Lúcio Da Silva 10.11. PT Aveiro - Teatro Aveirense 11.11. PT Porto - Casa da Música 12.11. PT Lisbon - Aula Magna 15.11. FR Biarritz – L’Atabal 16.11. FR Toulouse - Halle aux Grains 17.11. FR Lyon – L’Opera 18.11. FR Annecy - Bonlieu 20.11. FR Merignac – Le Pin Galant 21.11. FR La Rochelle – L’EspaceEncan 23.11. FR Cherbourg – Le Trident 26.11. FR Rouen – L’Opera 27.11. FR Nantes - Le Lieu Unique 28.11. FR Nantes - Le Lieu Unique 29.11. FR Rennes - Le Théâtre National de Bretagne 30.11. FR Brest - Quartz
2025
06.03. – DE Bremen, Die Glocke 07.03. – DK Aarhus, MusikHuset 09.03. – DE Dortmund, Konzerthaus 10.03. – BE Antwerp, Queen Elisabeth Hall 11.03. – NL Amsterdam, Carré 12.03. – FR Paris, Salle Pleyel 14.03. – UK Glasgow, Pavilion Theatre 15.03. – IRL Dublin, Olympia 17.03. – UK London, Royal Albert Hall
Waiting For Louise sind immer für eine Überraschung gut! Längst haben sich Waiting For Louise von einer reinen, eigenständig-kreativen Cover-Versionen-Band zu einer beeindruckend ideenreichen Formation mit Genre sprengenden, eigenen Kompositionen entwickelt. Mit "Rain Meditation" emanzipieren sie sich jetzt auch noch von der Notwendigkeit, dass Country-Folk oder psychedelischer Rock unbedingt englische Texte enthalten muss. Vier der acht neuen Tracks wurden nämlich mit deutscher Sprache ausgestattet. Ideengeber und Lenker hinter der Gruppe Waiting For Louise , deren Grundstock bereits 1992 gelegt wurde, ist der Multiinstrumentalist, Sänger und Komponist Michael Mann. Der aus Voerde am Niederrhein stammende Musiker ist außerdem noch für die Blues-Combo Rusty Nails und das Projekt Songs To The Siren verantwortlich, welches sich unter anderem mit den Kompositionen von Tim Buckley , The Velvet Underground und Nick Drake auseinandersetzt. "Rain Meditation" enthält au...
Ein analytisches "Gespräch" zwischen Günter Ramsauer und Heino Walter. Es ist schon eine lieb gewordene Tradition geworden, dass wir uns lobend über die Projekte von Michael Mann in ROADTRACKS auslassen und jedes Mal von Neuem total begeistert sind. Der Name war Programm, als vor etwa 15 Jahren das deutsche Quartett Songs To The Siren zusammenfand. Coverversionen von Tim Buckley sollten es sein. Ein Programm, das naturgemäß wachsen musste. Demzufolge kamen nach und nach weitere Interpreten hinzu: John Martyn, Amon Düül II, Nick Drake, Chet Baker und Can. Wie gekonnt sie es verstehen, die Originale nachzuempfinden oder neu zu interpretieren, ist nachzuhören auf „Songs To The Siren“ (2007), „Songs To The Siren 2“ (2010) und „Songs To The Siren 3“ (2014). Ein neuer Schritt ist ihr Album „2019“, bei dem sie sich das berühmte dritte Album von The Velvet Underground, das im vergangenen Jahr den 50. Geburtstag feierte, zur Brust nehmen. Dabei verzichten sie auf die Stüc...
Fünf Autoren, fünf Sichtweisen, eine Zielrichtung: Der Pop soll Kopf stehen. Die Bugwellen des Lebens prägen die Wahrnehmung und damit auch die Beziehung zur Musik, die für alle Autoren von "Pop steht Kopf" viel mehr als nur billige Hintergrund-Berieselung ist. Damit geben sie sich nicht ab. Musik ist ein wichtiger Bestandteil des Daseins, ist beglückend, bildend und kraftspendend. Davon handelt "Pop steht Kopf" unter anderem. Unerschrocken vorgetragene Erfahrungsberichte zeichnen ein schillerndes, abwechslungsreiches Bild der Pop-Kultur, das es in dieser Konstellation wohl bislang nicht gegeben hat. Kompetenz trifft hier vortrefflich auf Leidenschaft, Feinsinnigkeit, Aufrichtigkeit und Originalität. Der Klappentext: Musik in einen kulturellen und/oder persönlichen Kontext zu stellen, war die einzige Vorgabe an die Autoren dieser Anthologie. Ihr Titel Pop steht Kopf ist lediglich eine Andeutung, wie unterschiedlich die Autoren mit ihren eigenwilligen Perspektiven an...
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