STUART A. STAPLES - Arrythmia (2018)

STUART A. STAPLES von den Tindersticks hat 2018 nach 12 Jahren mit "Arrythmia" ein neues Solo-Album herausgebracht.

Exzentrisch und wohltuend: Stuart A. Staples verfasst kunstvolle Kompositionen, die bis aufs Skelett seziert werden und verschiebt dadurch die Wahrnehmung für laut und leise.

Stuart A. Staples, Frontmann der Tindersticks, erscheint stets als Bedenkenträger. Selbst die tendenziell positiver gestimmten Songs umgibt eine Aura der Verzweiflung, Einsamkeit, Ungewissheit und Not. Mit einer Stimme, die eine ähnlich depressive Ausstrahlung wie die von Ian Curtis (Joy Division) ausdrückt, inszeniert er intensive Dramen, die durch Mark und Bein gehen. In dieser Rolle des Unheilbringers ist Stuart sehr überzeugend und verfügt über ein Erscheinungsbild, das dem von Nick Cave ähnelt, aber ohne dessen aggressive Ausbrüche auskommt.
Die Arbeiten zu „Arrythmia“ begannen Weihnachten 2016. Nachdem das Jahr für Stuart nicht gut gelaufen war, lenkte er sich mit der Umsetzung von Ideen in seinem Studio vom Alltag ab. Aber erst ein Jahr später vollendete er die Aufnahmen. Er wollte den Kompositionen Raum zur Entfaltung geben und sie reifen lassen. Eigentlich führt solch ein Prozess häufig zur Überproduktion, bei der dann Instrumentenspur auf Instrumentenspur getürmt wird. Aber hier wurden die Songs eher von jeglichem unnötigen Ballast befreit und an seltsame Orte befördert, wie es Staples ausdrückt. Stuart hat die konventionelle Form des Pop-Songs mit seiner ersten Solo-Platte seit zwölf Jahren hinter sich gelassen. Er weitet seine Musik zur Kunstform aus. Damit geht er einen ähnlichen Weg wie David Sylvian von Japan, Scott Walker von den Walker Brothers oder Mark Hollis von Talk Talk. Sie alle waren Frontmänner von Bands, die kommerziellen Erfolg hatten und verließen den Pfad des Mainstreams zugunsten einer künstlerischen Herausforderung, die keine großen Verkaufszahlen, aber Anerkennung und Erfüllung versprach.

Stuart A. Staples: Arrhythmia (CD) – jpc
Auf seinem dritten Solo-Werk „Arrythmia“ nehmen zudem schwebende, erzählerische Soundtrack-Komponenten, die von den Tindersticks schon mehrfach erprobt wurden, eine Schlüsselrolle ein. Die Stücke stimulieren die Kraft der Sinne sowie das Vorstellungsvermögen und lassen sich frei treiben. Die Töne kommen oft von der dunklen Seite, wirken aber nicht wirklich bedrohlich, besitzen jedoch alle Attribute, die die Abwesenheit von Licht eben aufweist. Aber das Album enthält keine kakophonischen Geräusche, sondern es orientiert sich an außergewöhnlichen Gebilden, die fremdartig, aber nicht unbedingt verstörend, höchstens irritierend wirken. Nicht ohne Grund wurde für die Platte der Titel „Arrythmia“ gewählt, was sowohl als unrhythmisch oder unregelmäßig, aber auch als Herzrhythmusstörung übersetzt und verstanden werden kann.
„A New Real“ existiert hauptsächlich aufgrund eines abgespecktem Drum-Loops, stoisch brummenden Bass-Spuren und verirrt wirkenden, luftigen und regen Percussion-Einlagen, die manche Zwischenräume ausfüllen. Der desillusionierte Sing-Sang trägt zum morbiden Klima bei und führt konstant durch die schleierhaften Sound-Landschaften. Gegen Ende der Komposition reißt der trübe Himmel doch noch auf: Gewitternd fallen Hoffnungsschimmer auf die graue Erde und bringen sogar noch Unruhe und Aufregung in das Geschehen ein. „Memories Of Love“ zelebriert den Stillstand sowie die Kunst der Langsamkeit. Das sorgt dafür, dass die Wahrnehmung für die einzelnen Noten gesteigert wird. Die Melodie dehnt sich so weit, bis ihr Zusammenhang verloren zu gehen droht. Der Gesang ist nahe am Abgrund zur Selbstaufgabe angesiedelt, so dass die leise instrumentale Untermalung von Schlagzeug, Percussion, Glocken und Keyboards zunächst völlig in den Hintergrund gedrängt wird. Später verstummt die Stimme und das Glockenspiel emanzipiert sich, füllt den Raum mit schillernden, verspielten Tönen, führt aber vollends zur Desorientierung und lässt den Track lautmalerisch ausklingen.
„Step Into The Grey“ zeigt im Gegensatz zu seinem Vorgänger klarere Songstrukturen, auch wenn es immer wieder zu Brüchen, Leerläufen und gegen den Strich gebürsteten Akkorden kommt. Dieser Art-Rock ist stellenweise avantgardistisch aufgestellt, manchmal aber auch anschmiegsam gestaltet worden. Wenn der klackende Rhythmus als stoischer Taktgeber zwischenzeitlich ausgesetzt wird, gibt es leise Ruhephasen oder der Track gerät in helle Aufregung.
Die instrumentale Klangzeichnung „Music For A Year In Small Paintings“ wurde als imaginärer Soundtrack für 365 Ölbilder der Malerin und Partnerin von Stuart A. Staples, Suzanne Osborne, konzipiert und hat eine Laufzeit von über einer halben Stunde. Das Epos wird langsam aufgebaut und bleibt dabei sphärisch und ruhig. Die Musik mausert sich von echohaften, glitzernd-perlenden E-Gitarren-Fantasien zu einer sinfonischen Dichtung mit Geigenschwaden nebst bitterem Weinen einer Klarinette. Danach wird das Stück mit alternativen Klangfarben erneut wieder zusammengesetzt. Die Stimmung wandelt sich dabei von nachdenklich vibrierend zu exotisch forschend. Der Prozess des Neubeginns wiederholt sich dann nochmal mit einer klagend intensiven Klarinetten-Einleitung, die von einem wimmernden Ton - wie von einem Theremin - abgelöst wird. Die Atmosphäre bleibt trotz der hellen, intensiven Ausrichtung eher unaufgeregt. Sie wird durch sich abwechselnde, langgezogene Schwingungen durchdrungen, die wiederum von zurückgenommenen, beruhigenden Gitarren- und Keyboard-Einschüben geerdet werden.
„Arrythmia“ ist konsequenter Anti-Pop sowie reizvolle Kunstmusik und bietet vieldeutige, tonale Experimente mit vorwiegend meditativen Reizen an, die die Sinne kitzeln. Im Zentrum der Darstellung steht nicht nur die Erschaffung kreativer Tongebilde, sondern auch die Einbeziehung von Ruhe und Stille sowie die Möglichkeit der Konzentration auf das Wesentliche. Das Auflösen der Songstrukturen und das Zuführen von Elementen aus der modernen Klassik zur Erzeugung von Schwere, Einsamkeit und Weite wurde schon für Tindersticks-Soundtrack-Werke wie „Trouble Every Day“ (2001) realisiert. Die Dekonstruktion und Verschiebung ins Abstrakte nimmt hier wagemutige Formen an, die die Grenzen des freien Spiels aber nicht überschreiten.
Durch die überwiegend leisen Abläufe bauschen sich die etwas dynamischeren Passagen im Vergleich zu den fragil klingenden Tönen wie pompöse, wilde Ornamente auf. Die Wahrnehmung zwischen laut und leise verschiebt sich dadurch. Wenn das ambitionierte Werk seine künstlerisch bildende Wirkung getan hat, ist es schwer, wieder auf konventionelle Pop- und Rock-Musik umzuschwenken. Zu stark ist die Suggestion der minimalistisch angeordneten Tonfolgen. Alles andere wirkt dagegen zunächst wie Reizüberflutung.
Wer sich auf „Flux + Mutability“ von David Sylvian & Holger Czukay, „Climate Of Hunter“ von Scott Walker oder „Laughing Stock“ von Talk Talk einlassen kann, der wird auch die Klangpoesie von „Arrythmia“ wohlwollend zu schätzen wissen.

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