Tindersticks - Distractions

 
Umbruch trotz oder wegen Corona: Der Lockdown als kreative Findungsphase.

Corona ohne Ende. Auch die Tindersticks um Stuart A. Staples haben ihre Lehren aus der Pandemie gezogen. Der Lockdown sei definitiv ein Teil von "Distractions" aber nicht eine Reaktion darauf, lässt sich Staples zitieren. Aber die Gruppe brauchte Ablenkungen und bei dieser Gelegenheit habe man eine offene, frei fließende Form bei der Umsetzung ausprobiert, wobei jedes Bandmitglied seine Musikalität anders als bisher ausrichten konnte. Nur zwei Monate nach der Veröffentlichung von "No Treasure But Hope", also schon im Januar 2020 kam es zu ersten Überlegungen über die Gestaltung von zukünftiger Musik. Wegen des Lockdowns wurden dann auch bald Aktivitäten für das dreizehnte Studio-Album der Band aus Nottingham aufgenommen, dessen Fertigstellung sich bis zum September 2020 hinzog. 

Um unmittelbar Intensität aufzubauen, beginnen die Tindersticks das Album mit dem 11minütigen, monotonen "Man Alone (Can't Stop The Fadin')". Statt jedoch einen hypnotischen Rausch mit Hilfe von Krautrock-Referenzen im Can-Gedächtnis-Stil hervorzurufen, wartet das Stück mit nervtötenden Wiederholungen auf. Das klingt übertrieben in die Länge gezogen, so wie viele der 12inch-Maxi-Single-Remixe aus den 1980er Jahren, wo den Songs mit endlos ausgewalzten Gimmicks das Leben ausgehaucht wurde. Ein klassischer Fehlstart.
Das sich anschließende, geflüstert-leise, merkwürdig-intime, klirrend kalt erscheinende "I Imagine You" macht den anfangs gewonnenen, zwiespältigen Eindruck zum großen Teil wieder wett. Die Arrangements wurden hier kreativ mit Tönen ausgestattet, die sich wie eine Glasharfe und eine singende Säge anhören. Staples erklärt das Stück kryptisch, aber auch poetisch: "Ich denke, es ist ein Lied von der Rückseite eines Sofas, das dort unten verschwindet und die Verbindung zur Welt verliert". Eine herrlich verschrobene Beschreibung.

Richtig stark wird es mit dem folgenden Cover-Versionen-Trio. Da wäre zunächst "A Man Needs A Maid" von Neil Young, das im Original als teils intime, teils orchestral ausgeschmückte, ergreifende Ballade das Album "Harvest" aus 1972 ziert. 
Die Tindersticks interpretieren den Song als dunklen, melancholischen Electro-Pop mit gleichmäßig tickendem Rhythmus, dem auch Gina Foster als Duett-Gesangspartnerin keinen Sonnenschein einhauchen kann. Es entsteht eine kristallklare, behagliche Tristesse für Fortgeschrittene, die aus den Schattenseiten des Lebens Kraft schöpft.
Dory Previn war die Ehefrau des Klassik- und Jazz-Pianisten, Komponisten und Dirigenten André Previn. Sie trat als Schriftstellerin und Musikerin ins Licht der Öffentlichkeit. In ihrem Leben gab es oft Konfrontationen mit psychischen Krankheiten, sowohl wegen ihres paranoiden Vaters wie auch wegen eigener Probleme: André Previn verließ sie 1970 wegen Mia Farrow. Ihren Schmerz verarbeitete sie auch in ihren Songs, in denen sie zur Kompensation drastische Themen unterbrachte. "Lady With The Braid" von 1971 erzählt die Geschichte einer einsamen, verunsicherten Frau, die einen männlichen Gast dazu bewegen möchte, über Nacht zu bleiben, wobei sie sich emotional an ihn klammert. Musikalisch handelt es sich um eine traditionelle Country-Folk-Ballade im Merle Haggard-Stil mit romantischen, lieblichen Streichern, die von Dory mit klarer, angenehmer Stimme offen und unvoreingenommen gesungen wird. 
Stuart A. Staples & Co. erhöhen das Tempo und lassen den Song jazzig swingen, wobei der Gesang gedankenvoll-sinnierend hinterher zu hinken scheint. Das Lied wird nach sieben Minuten ausgeblendet. Es entsteht aber der Eindruck, dass die Musiker noch mehr zu sagen hatten und der Track in Wirklichkeit viel länger ausgefallen ist.
Die Television Personalities wurden 1977 in London von Sänger Dick Treacy gegründet und waren sowas wie das fehlende Glied zwischen Punk und psychedelischem Folk-Rock. Die britischen Underground-Helden erlangten zumindest durch den Song "I Know Where Syd Barrett Lives" Insider-Kult-Status. Sie wussten damals tatsächlich, wo sich der verschollene Pink Floyd-Gründer aufhielt. Er lebte nämlich abgeschieden in Cambridge bei seiner Mutter. "You'll Have To Scream Louder" stammt vom 1984er-Album "The Painted Word" und ist ein schlampig-dreckiger Rocker mit Pop-Füllung, die sich aber im Gewirr des E-Gitarren-Geschrammels und der zersetzenden Echo-Effekte verliert. 
Bei den Tindersticks kommt das Lied im Gegensatz dazu mit karibisch anmutenden, tanzbaren Rhythmen beinahe freundlich rüber.
Song Nr. 6 und 7 sind dann wieder Eigenkompositionen: Das traurige Piano-Chanson "Tue-Moi" verbreitet eine gedrückte Stimmung, denn es ist dem Terroranschlag auf das Bataclan in Paris im Jahr 2015 gewidmet. Die Aufmerksamkeit wird hier ganz und gar auf das leicht erregte Timbre des lyrisch-bedeutsamen Gesanges gelenkt. 
Friedliche Frühlingsgeräusche leiten dann das abschließende "The Bough Bends" ein. Besänftigend gesprochene Worte passen sich in die harmonische Klanglandschaft ein, bevor der Track ganz langsam Fahrt aufnimmt, aber sich trotz knurrend-rumorenden und hell schillernden E-Gitarren in ruhigem Fahrwasser aufhält.

Es ist löblich, dass sich die Musiker für "Distractions" bemühen, sich selbst und ihren Sound weiterzuentwickeln. Aber diese Schritte sollten ausgereift, sinnvoll und nachvollziehbar sein und nicht - wie bei "Man Alone (Can't Stop The Fadin')" - in einem unausgegorenen Experiment enden. Um das zu vermeiden, hilft es oft Ideen von Künstlern aufzunehmen, die bisher noch nicht im Dunstkreis der handelnden Personen aufgetaucht sind, statt im eigenen Saft zu schmoren. Die Kritik an dem Stück soll darstellen, wie schnell man sich verrennen kann und künstlerisch in die Sackgasse gerät, wenn Ideen herausgegeben werden, die nicht das gewohnte Niveau halten. In diesem Falle wird teilweise genau das erreicht, was vermieden werden sollte: Ein Qualitätsverlust. Aber die Tindersticks haben ansonsten nur interessante Tracks abgeliefert. So ist unterm Strich ein lohnendes Album herausgekommen, aber eben kein Meisterwerk.

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