Glen Campbell - Adios (2017)

"Adios" ist ein letzter musikalischer Gruß: Glen Campbell kämpfte noch einmal gegen das Vergessen an.

Der große Country-Pop-Interpret GLEN CAMPBELL leidet an Alzheimer. In den 60er und 70er Jahren war er Dauergast in den Charts mit Evergreens wie GALVESTON, RHINESTONE COWBOY, WICHITA LINEMAN oder GENTLE ON MY MIND. Mit ADIOS erscheinen jetzt seine letzten Aufnahmen, die zwischen November 2012 und Januar 2013 entstanden. Noch einmal kann seine harmonische, würdevolle Stimme vernommen werden. Aber es entsteht natürlich auch Wehmut. Nichtsdestotrotz ist ADIOS ein starkes, stolzer Werk geworden und ein gelungener letzter musikalischer Gruß.

Adios - Campbell, Glen: Amazon.de: Musik
Glen Campbell erlangte durch seine Country-Pop-Interpretationen von unsterblichen Jimmy Webb Kompositionen wie „Galveston“, „Wichita Lineman“ und „By The Time I Get To Phoenix“ sowie Versionen von „Rhinestone Cowboy“, „Southern Nights“ oder „Gentle On My Mind“ Weltruhm. Der Mann kann generell einen eindrucksvollen künstlerischen Lebenslauf vorweisen: So war er unter anderem Studiomusiker für Elvis und Frank Sinatra sowie Tour-Band-Mitglied der Beach Boys. Mal ganz abgesehen von seiner erfolgreichen Solo-Laufbahn in den 1960er und 1970er Jahren, die ihm sogar die Leitung von Fernsehshows und Rollen als Schauspieler einbrachte. Nicht zu vergessen: Nahezu 50 Millionen Tonträger hat der 1936 in Delight, Arkansas geborene Musiker in seiner Karriere umgesetzt. Aber Glen lernte auch die Kehrseite des Ruhmes kennen. Als er gegen Ende der 1970er Jahre nicht mehr so gefragt war, verfiel er in Depressionen und bekam Drogenprobleme.
Jetzt erscheint mit „Adiós“ sein Abschiedswerk, denn 2011 wurde bei ihm Alzheimer diagnostiziert. Bei dieser Krankheit verschwindet auf grausame Weise in Etappen die Persönlichkeit eines Menschen. Zuerst machen sich nur Gedächtnislücken bemerkbar, dann werden nach und nach motorische und emotionale Fähigkeiten weniger, bis der Mensch seine Identität und alle Fähigkeiten verliert. Eine Horrorvorstellung. Schon 2011, als das zwischen 2009 und 2010 entstandene „Ghost On The Canvas“ erschien und Glen seine letzte Tournee unternahm, war klar, dass er nicht mehr lange zu weiteren Aufnahmen fähig sein würde. Denn die Krankheit verschlimmerte sich zunehmend. Ein Wettlauf gegen die Zeit begann, aber Glen stemmte sich noch Mal gegen den unvermeidbaren Verfall. 2013 wurden dann mit „See You There“ weitere Einspielungen, die sich im Zuge der „Ghost On The Canvas“-Sessions ergaben, nachgeschoben.
Und jetzt erscheint mit „Adiós“, das zwischen November 2012 und Januar 2013 aufgenommen wurde, sein endgültiges Vermächtnis: Die Platte ist aber kein gebrochenes, schmerzhaft bemühtes Album geworden. Die Musik zeugt von Demut, Liebe und Dankbarkeit und vermittelt Durchhaltevermögen und energiespendende Kraft. Natürlich spiegelt die Stimme das reife Alter wider und Unsauberkeiten in der Aussprache sind auch auszumachen, aber der dramatische Gesundheitszustand des Sängers ist nicht zu ahnen. Campbell singt Lieder, die er liebt, die aber größtenteils bisher nicht im Studio mitgeschnitten wurden. Glen konnte dabei mit gefälligen Arrangements vertraut in Szene gesetzt werden und rief seine Erfahrung noch mal mit Leidenschaft ab.
„Everybody`s Talkin'“ von Fred Neil, das hier an die bekanntere Version von Harry Nilsson angelehnt ist, eröffnet mit Unterstützung von Glens Tochter Ashley am Banjo den Song-Reigen. Die Ballade „Just Like Always“, einer von vier Jimmy Webb-Songs auf der Platte, zeigt Glen in seiner Paraderolle als empathischen, ausdrucksstarken Crooner. Trotz der sentimentalen und intimen Stimmung strahlt der Song Würde und Stolz aus. Beim von ihm geschriebenen „Funny (How Time Slips Away)“ fungiert Willie Nelson als Duett-Partner. Die Herren interpretieren das Lied als lässig swingenden Country. „Arkansas Farmboy“ basiert auf Erzählungen über Glens Kindheit. Sein Freund und Banjo-Spieler Carl Jackson, der auch Produzent und Gitarrist bei „Adiós“ ist, machte daraus einen schmachtenden Bluegrass-Gospel.
„Am I All Alone (Or Is It Only Me)“ bekommt eine gesungene Einleitung mit Begleitung auf der Akustik-Gitarre durch den Autor, dem Country & Western-Urgestein Roger Miller („King Of The Road“). Danach folgt die aktuelle Version des langsamen, traurigen Liedes mit gesanglicher Unterstützung von Vince Gill. Die neo-traditionelle Country-Ballade „It Won't Bring Her Back“ zieht dann alle Register, um den Hörer zu Tränen zu rühren. Bob Dylans „Don`t Think Twice, Its Allright“ wird als beschwingter, ausgelassener Ragtime-Boogie präsentiert und die bedächtige Honky-Tonk Country-Nummer „She Thinks I Still Care“ bündelt die verfügbaren instrumentalen Kräfte, um Glens Stimme ins rechte Licht zu rücken. „Postcard From Paris“ kam schon für „See You There“ zu Ehren und wurde hier zu weichgespült umgesetzt. Auch dem durch Johnny Cash bekannt gewordenen „A Thing Called Love“ hätte etwas mehr Straffung gut getan. „Adiós“ ist die Wehmut anzumerken, die Glen bei der Interpretation erfasst haben mag. Aber er steht diese Gefühlswallungen tapfer durch.
„Adiós“ braucht keinen Mitleidsbonus! Die Aufnahmen überzeugen oft durch individuelle Klasse und der Auswahl von hochkarätigen Kompositionen. Die Songs kommen ohne überstrapazierten Pathos aus, sind nicht wehleidig, sondern offenbaren Spaß an der Musik und feiern die emotionale Ausdrucksfähigkeit von gefühlvollen und beschwingten Noten. Dem 81jährigen Musiker gelingt es, angemessen Lebewohl zu sagen. Das ist zwar voller Tragik, aber unter den erwähnten Umständen verdient der gelungene musikalische Gruß größten Respekt. Schon 2016 ging durch die Presse, dass Glen das Gitarre spielen verlernt habe, nicht mehr sprechen könne und keine Erinnerung mehr an seine Karriere hat. Die Veröffentlichung von „Adios“ wird Glen Campbell nicht mehr bewusst miterleben, denn seine Erkrankung nähert sich dem Endstadium, verbunden mit einer totalen Abkapselung von der Realität.
Hier sind Impressionen aus den Aufnahme-Sessions zu sehen:

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Waiting For Louise - Rain Meditation

Jahresbestenliste 2023

Lesestoff: Pop steht Kopf