BROTHER GRIMM - HOME TODAY, GONE TOMORROW (2018)

Die Lust an bedrohlichen Szenarien und destruktiven Szenarien umgibt die Kompositionen von BROTHER GRIMM. Die Seele schreit auf und sucht auch nach Vergebung und Wärme. Sein neues Psychogramm wurde HOME TODAY, GONE TOMORROW betitelt und Einzelheiten dazu können hier nachgelesen werden:
Brother Grimm sorgt für beklemmende Stimmung und nutzt dafür eine stilistische Bandbreite, die sowohl Blues und Folk wie auch Avantgarde und Jazz einbezieht.
Genau wie die düsteren Horror-Märchen „Das Mädchen ohne Hände“, „Das Mordschloss“ oder „Das Totenhemdchen“ der echten Gebrüder Grimm hat diese Musik etwas Bedrohliches. Der sphärische und stoische Gothik-Folk von „A Letter To Bob“ transportiert die Trauer und Ergriffenheit einer Grabrede. Die Zeit scheint außerhalb dieses Geschehens stehen zu bleiben. Es entsteht das Gefühl einer isolierenden, beklemmenden Hoffnungslosigkeit. Endzeitstimmung macht sich breit. Sakrale Töne beißen sich mit leidenschaftlich leidendem Gesang. Aus dieser Reibung entsteht ein abgründiges Psychogramm. „Sharp's The Word“ bringt dann kontrolliert brodelnde Aggressivität in den Ablauf ein. Die ruhelosen Geister des verstorbenen Dark-Blues-Helden Jeffrey Lee Pierce (The Gun Club) und des wilden, ruhelosen Psychobilly-Rebellen Lux Interior (The Cramps) scheinen vom Brother Grimm Besitz ergriffen zu haben.
Das instrumentale „The Black Lodge“ beschwört mit verstörenden Tönen eine seltsame, gestörte Atmosphäre herauf. Der Track fällt kontur- und strukturlos aus dem Rahmen und offenbart dadurch eine anarchistische Haltung. „Echoes“ sorgt mit verzweifeltem Gesang und dunklen Tönen für ergreifend tragische Momente. Das plötzliche Ende des Songs gibt dabei zusätzliche Rätsel auf. In diese trostlose Elegie schleichen sich allmählich die Blechbläser einer Marching-Band, die ansonsten Beerdigungen begleiten. Bonjour Tristesse! „Aloha“ verbindet hypnotische Trommeln und monotone Gitarren-Riffs mit Saxophonen, die hemmungslos Free-Jazz zelebrieren. Die Gitarrenriffs klingen nach Unglück verheißenden Glocken und die schreienden Bläser lassen an gequälte Individuen denken. Rituelle Folk-Rhythmen leiten dann den elektrischen Hypno-Blues „Born Under Punches“ ein, der sich stoisch und eigenwillig durchsetzt. Der monoton-harte R&B-Rhythmus beschwört dabei einmal mehr den aufrührerischen Geist des Rock & Roll herauf.
Mit dem melancholisch-intellektuellen Charme eines Scott Walker referiert Bruder Grimm seine kritischen Gedanken über Deutschland: Für „Still Afraid Of Germany“ werden zunächst elektrisch aufgeladene, aber dennoch gezügelte Töne angeschlagen. Der Gesang trägt eine beschwörende Note bei. Das Stück wird nach etwa drei Minuten allmählich in eine monoton-destruktive Stimmung überführt, bevor nach weiteren zweieinhalb Minuten plötzlich in Richtung intimer Folk umgeschwenkt wird. Die rauschhaften Folk-Jazz Schöpfungen eines Tim Buckley scheinen zur Anregung beigetragen zu haben. Der irritierend-verletzliche Psycho-Hippie-Blues „Home Today, Gone Tomorrow“ geht nach fünf Minuten harmonisch und drogengeschwängert zu Ende. 

Als verborgener Track wird dann noch eine gespenstische Version von David Bowies „Heroes“ geboten, die mit massivem Gitarrenfeedback angereichert wurde.
Dennis Grimm, der als Brother Grimm unterwegs ist, hinterlässt mit seinen Klängen den Eindruck eines weltvergessenen Außenseiters, der abseits der Zivilisation unabhängig in der freien Natur lebt. In Wirklichkeit wohnt er aber in Berlin, dessen spezieller Puls ihn wohl auch zu dieser finsteren Messe inspiriert hat. Er scheint also jemand zu sein, der in der Anonymität und Hektik der Großstadt eine alternative Spiritualität ergründen möchte, denn seine Schöpfungen vermitteln bei aller Zerrissenheit und Schwermut auch den Glauben an eine höhere, nicht zu fassende Macht. Endzeit-Gospel ist ein Begriff, der zu den düster grummelnden Moritaten passt. Für die Umsetzung dieser Töne hat Dennis mit Tenboi Levinson von den dänischen Voodoo-Blues-Künstlern Hodja einen verständnisvollen, gleichgesinnten musikalischen Bruder im Geiste gefunden.
Die Beiden haben mit „Home Today, Gone Tomorrow“ eher die Vertonung eines Psycho-Trip-Hörspiels als eine Songsammlung bewerkstelligt. 
Entsprechend ist das Konsumieren der Sounds stellenweise nicht leicht, weil es Passagen von quälender Intensivität gibt. Das Werk vermittelt sowohl die apokalyptische Stimmung von György Ligeti-Kompositionen wie auch die Wut und Verzweiflung früher Nick Cave-Aufnahmen. Zwischendurch kommt noch die suggestive Sogwirkung von stumpfen Bo Diddley-R&B-Krachern zum Tragen. Die imaginäre Aussagekraft von David Sylvian und die Experimentierfreude, die die Aufnahmen des Avantgardisten Karlheinz Stockhausen oder des Jazz-Saxophonisten Pharoah Sanders ausmachen, sind auch präsent. Mut zum Risiko beweist Brother Grimm also auf jeden Fall und sorgt für reichlich unorthodoxe Spannung. Eine nachhaltig beeindruckende Wirkung erzeugt der Düstermann aber immer nur dann, wenn er neben der Lust am Destruktiven auch seine melodische Seite darbietet und den dämonischen Gebilden eine hoffnungsvolle Note verleiht.

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