ROXY MUSIC - Roxy Music (1972)

Die erste LP von ROXY MUSIC schlug 1972 ein wie ein Blitz.

Kunst und Pop trafen sich bei ROXY MUSIC auf einer Ebene, die beiden Richtungen Raum gab und ein neues Fusionsgefühl entstand. Dieser Klassiker wurde jetzt zum 45jährigen Jubiläum neu aufgelegt. Einen Rückblick und eine Inhaltsbeschreibung gibt es hier:
„Roxy Music“ verband Pop- mit Kunst und schuf nebenbei noch einen Ausgangspunkt zur Definition der Glam-Rock-Ästhetik.
Das zweite Halbjahr 1972 stand in Großbritannien ganz unter dem Einfluss einer neuen Band mit schrillen, dekadenten Outfits und einem Art-Rock, bei dem Art und Rock sowohl nebeneinander wie auch fusioniert ablief. Als das Debütalbum von Roxy Music am 16. Juni veröffentlicht wurde, schlug es hohe Wellen. Es konnte sein, dass das Bewegen durch das Frequenzband des Radios in dieser Zeit dazu führte, dass man plötzlich bei einem merkwürdigen Zirpen und Fiepen, verbunden mit einer erfrischend chaotischen Mischung aus unterschiedlichsten Musikrichtungen hängen blieb, die in dieser Zusammensetzung eigenwillig und ungewöhnlich klang. Diese Darbietung war das Ergebnis der Überlegungen der Kunststudenten Bryan Ferry (Gesang, Keyboards, Kompositionen) und Brian Eno (Synthesizer), die darin ihren Beitrag zur Aufhebung der Grenzen zwischen Unterhaltungsmusik und ernsten Klängen sahen. Dieses Konstrukt wurde dann als Gesamtkunstwerk aus Pop-Art, Mode, Life-Style und Musik vermarktet. Bei der Umsetzung der musikalischen Ideen standen damals noch Andy Mckay (Oboe und Saxophon), Phil Manzanera (E-Gitarre), Paul Thompson (Schlagzeug) und Graham Simpson (Bass) zur Verfügung.
In diesem Stilcocktail war Bryan Ferry als leidenschaftlicher Sänger besonders auffällig, weil sich der Dandy nicht zu schade war, auch schmalzig und antiquiert daherzukommen, wenn es dem Gesamtkonzept diente. Er hörte sich dann an, als hätte er zuvor in einem abgehalfterten Schuppen in Las Vegas als billige Elvis-, Frank Sinatra- oder Roy Orbison-Kopie gejobbt. Saxophon und Oboe wurden anspruchsvoll wirkend eingesetzt und rochierten sauber zwischen Rock und Jazz. Für diese Herangehensweise sind offensichtlich Lehrstunden bei King Crimson- und diversen Kammermusik-Platten nötig gewesen. Die Rhythmusfraktion gab einen strammen, unnachgiebigen Takt vor und analoge Synthesizer versuchten die Balance in Richtung Chaos zu verschieben, ohne diesen Zustand wirklich ernsthaft erreichen zu wollen. Dass der Paradiesvogel, der hinter diesen unkonventionellen Versuchen steckte, später der Begründer des Ambient-Sounds sowie ein beachteter Solo-Künstler und Produzent werden würde, war da noch nicht abzusehen.
Roxy Music: the album that transformed pop gets a rerelease ...
Das Album empfängt den Hörer beinahe überfallartig mit atemlosem, punkigem Art-Rock: „Re-Make/Re-Model“ vermittelt im Verlauf den Eindruck einer Collage aus Pop-, Rock-, Electronic- und Jazz-Zitaten, die bewusst überspitzt als futuristische Jahrmarktsmusik dargeboten werden. Hier wird zusammengebracht, was nicht von vornherein füreinander vorgesehen ist: Free-Jazz, Rock & Roll, Space-Sounds, Glam- und Prog-Rock gehen eine ungnädige, versponnene Allianz ein. Als wollten die Musiker ihre Visitenkarte abgeben, bekommt jeder Gelegenheit, sich durch ein kurzes Solo in Szene zu setzen.
Schwebeklänge wie aus einem Science-Fiction-Film, klassische Oboentöne, schmachtender Pop und galloppierender Rock & Roll sind die Hauptzutaten bei „Ladytron“. „If There Is Something“ beginnt als schnulziger Boogie-Blues, der Country-Luft geschnuppert hat. Ein Southern-Rock-Gitarren-Solo leitet zu einer Art-Rock-Passage über, die von dem weinerlichen Tremolo in Ferrys Stimme ad absurdum geführt wird. Das sich anschließende sphärisch-jazzige Saxophon-Solo ist ausgedehnt und dient als Vorspiel zu einer exaltierten Gesangseinlage, die von David Bowie stammen könnte. Dieser spürte die Geistesverwandtschaft und hat den Track übrigens mit seiner Band Tin Machine 1991 gecovert.

„Virginia Plain“ ist der knallige, aufgedrehte Glam-Rock Single-Hit vom Juli 1972, der nicht auf der Erstausgabe der damaligen LP drauf war. Das nachdenkliche „2HB“ spielt Space-Pop- und Jazz-Bezüge gegeneinander aus. „2HB“ ist übrigens als eine Hommage an den Schauspieler Humphrey Bogart zu verstehen. Der Titel „The BOB (Medley)“ beinhaltet eine Abkürzung für „Battle Of Britain“ und meint die sogenannte Luftschlacht um England im zweiten Weltkrieg im Jahr 1940. Der Track besteht aus der Aneinanderreihung und Überlappung von Audio-Beispielen. Wabernde Synthesizer-Klänge, klagender Rock, kammermusikalische Romantik, Kriegsgeräusche, trauriger Jazz, ausgelassener Pop und eine Solo-Rock-Gitarre gepaart mit einer Jazz-Oboe bilden die Zutaten zu diesem gediegenen Pop-Art-Hörspiel.
Was zunächst wie eine zittrig-intime Piano-Ballade beginnt und pessimistische Töne beschert, findet bei „Chance Meeting“ durch sägendes Gitarrenfeedback ein unromantisches Ende. Innerhalb von „Would You Believe?“ wird schmalziger Pop-Jazz von trashigem Rock & Roll der 1950er Jahre abgelöst. „Sea Breezes“ bringt barocken Jazz mit holprigem, in Schräglage geratenem Art-Pop zusammen und bei „Bitters End“ handelt es sich um parodistischen Doo-Wop-Gesang in Verbindung mit flehendem Jazz-Pop.
Diese Fusionen von überzogen dargestellten Klischees und die Vielzahl der verwendeten Referenzen stellten die damaligen Wahrnehmungen des Kunstbegriffs innerhalb von Pop und Rock ziemlich auf den Kopf. Art-Rock hatte grundsätzlich komplex und schwierig zu sein und wurde nur ausnahmsweise mit klassischem Rock & Roll in Zusammenhang gebracht. Die Sänger in diesem Umfeld agierten bedeutungsschwer und zeigten sich nur selten so lasziv oder ironisch, wie es nun Mr. Ferry hingebungsvoll tat. Roxy Music sprengten diese dogmatischen Fesseln zwischen Pop und Kunst lustvoll, sowohl musikalisch wie auch imagetechnisch.
„Roxy Music“ ist gewagt, übermütig, zeitlos und visionär. Kaum vorstellbar, dass das Album heute bei einer großen Plattenfirma rauskommen könnte. Die Soundvorstellungen der Gruppe aus dieser Phase haben dann auch fast gar nichts mehr mit den geschniegelten, unterkühlten Klängen zu tun, die die Band zehn Jahre später, als sie längst Weltruhm erlangt hatte, mit „Avalon“ ablieferte.
Die Wiederveröffentlichung des Klassikers zum fünfundvierzigsten Jahrestag gibt es in unterschiedlichen Formaten: Als Vinyl-LP mit den ursprünglichen Songs ohne „Virginia Plain“. Dann als Doppel-CD-Deluxe-Version mit BBC-Sessions auf der zweiten CD. Und als 4-Disc-Super-Deluxe Edition, die zusätzlich Demos und Outtakes enthält und mit einer DVD ausgestattet ist, die „Roxy Music“ als Remix von Steven Wilson im 5.1 DTS 96/24-Sound präsentiert. Außerdem gibt es Bildmaterial von Promo-Videos, TV-Auftritten und einer Live-Aufnahme aus dem Bataclan in Paris zu sehen.
Von wenigen zu ausgedehnten Ego-Eskapaden bei „The BOB (Medley)“ oder „Sea Breezes“ abgesehen, erweckt „Roxy Music“ heute immer noch den Eindruck einer mit Überraschungseffekten gefüllten Wundertüte und klingt so revolutionär wie 1972. Dass das Werk damals auch noch ein Wegbereiter des Glam-Rock war, bestätigt seine besondere Bedeutung. Für die Jubiläumsausgabe wurde „Roxy Music“ in der 1999er Remaster-Version übernommen. Alle anderen Einspielungen bekamen eine klangliche Überarbeitung von Frank Arkwright in den Abbey Road Studios spendiert. Für den Fan sind die Aufnahmen für die BBC vielleicht interessant, weil sie eine alternative, oft wesentlich konventionellere, Rock-orientierte Sicht auf die Stücke vermitteln. Grundsätzlich geben sie aber keine weiteren erhellenden Perspektiven auf das Phänomen Roxy Music frei, sondern trüben sogar den durchkalkulierten, unbekümmerten populären Kunstaspekt, den das Erstlingswerk der Formation so interessant und aufregend machte. Die Lässigkeit und schnoddrige Dreistigkeit der Studioaufnahmen geht nämlich bei den Konzert-Erlebnissen manchmal aufgrund von gefühlter Anspannung verloren.

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