Joni Mitchell - Both Sides Now (Live At The Isle Of Wight Festival 1970)

Der Auftritt von JONI MITCHELL auf dem Isle Of Wight Festival 1970 wäre beinahe im Chaos geendet. Die Stimmung war aufgeheizt und unliebsame Unterbrechungen verstörten die Künstlerin zusehends. Dennoch konnte Joni die Massen letztlich noch auf ihre Seite ziehen. Dieses Dokument ist jetzt als DVD und Bluray erschienen. Nähere Einblicke gibt es hier:

Pur, verletzlich, aber schließlich triumphierend: Joni Mitchell behauptet sich 1970 auf der Isle Of Wight gegenüber einem unruhigen, gereizten Publikum.
Die Isle Of Wight befindet sich im Ärmelkanal und beherbergte von 1968 bis 1970 die wahrscheinlich größten Freiluft-Musik-Festivals in Europa. 1970 war es sogar das Festival mit den meisten Besuchern weltweit. Im Guiness Book Of Records werden die Teilnehmer mit 600.000 bis 700.000 Personen geschätzt. Der Veranstalter behauptet allerdings, es sei nur die Hälfte gewesen. Damals traten unter anderem Jimi HendrixMiles DavisThe DoorsChicagoThe WhoLeonard Cohen und eben auch Joni Mitchell zwischen dem 26. und 30. August dort auf.
Die gediegene, eigensinnig-innovative Folk-Frau hatte im April grade ihr drittes Album „Ladies Of The Canyon“ veröffentlicht, das unter anderem ihre Hymne auf das Woodstock-Festival enthielt. Die gebürtige Kanadierin, die damals im kalifornischen Laurel Canyon in einer Künstlerkolonie lebte, hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon einen ausgezeichneten Ruf als neugierige, sensible Komponistin und unverwechselbare Sängerin erarbeitet. Und jetzt stand die zarte, scheue Person vor dieser enormen Menschenmenge und wollte sich mit ihren fragilen Liedern Gehör verschaffen.
Und die Bedingungen dafür waren alles andere als ideal. Es hatte sich eine feindliche Stimmung gegenüber den Veranstaltern und Akteuren aufgebaut. Von einigen Provokateuren wurde das Festival als kommerzieller Ausverkauf angeprangert. Wütende Leute, die die Eintrittspreise zu hoch fanden und der Meinung waren, Open-Air-Musik müsste generell umsonst sein, machten sich daran, die Begrenzungszäune zum Festivalgelände einzureißen. Intern ging die Organisation den Bach runter, es gab am Auftrittstag von Joni einen Verzug von fünf Stunden, weil Musiker nicht rechtzeitig eingetroffen waren. Deshalb sollte die Kanadierin jetzt schon am Nachmittag anstatt am Abend auftreten. Dem stimmte sie nur widerwillig zu und wurde so dem aufgestachelten Publikum quasi zum Fraß vorgeworfen, wie sie es ähnlich formulierte. Der Antrittsapplaus war freundlich, aber nicht begeistert. Joni eröffnete ihren Set mit „That Song About The Midway“ auf der akustischen Gitarre und wirkte dabei angespannt, trug das Lied aber tapfer, zart und mit jubilierenden Einschüben vor. Schon jetzt war klar, dass ihr eigentümlicher Gesang, der sich in höchsten Tönen bewegen kann, polarisierte.
Etwas lebhafter wurde „Chelsea Morning“ präsentiert. Die Reaktionen blieben trotzdem verhalten. Dann wechselte die Sängerin ans Piano. Das Instrument erdete ihre extravagante Stimme besser und führte so zu einer stabileren Grundlage. Der Sound des Gesangs von „For Free“ war zunächst technisch bedingt noch dünn. Das Stück wurde aber berührend vorgetragen, auch wenn eine zunehmende Unsicherheit zu spüren war. Denn Joni kommentierte ihre Songs mit zittriger Stimme. Die Künstlerin wendete sich an die Masse und beklagte sich darüber, dass sie das Gröhlen und Pöbeln der Zuschauer (das übrigens auf der Aufnahme nicht zu vernehmen ist) aus dem Konzept bringe. Ihre Erklärung wurde dann durch einen ärztlichen Notfall aufgrund von Drogenkonsum in den vorderen Reihen beeinflusst. Mit dem anschließenden „Woodstock“ erlangte sie etwas mehr Sicherheit, die aber durch einen womöglich verwirrten Zuschauer, der unbedingt eine Erklärung abgeben wollte, wieder zunichte gemacht. Die Sängerin versucht noch das Eingreifen der Sicherheitskräfte zu schlichten, war aber aufgrund der ständigen Störungen verstört und den Tränen nahe.
Mit dem Mut der Verzweiflung richtete Joni beruhigend-beschwichtigende Worte ans Publikum, so dass es sich wieder auf ihren Auftritt konzentrierte. Sie entschied sich zur Flucht nach vorn und richtete sich nochmal an die Menschen, um Respekt für ihre Darbietung zu fordern. Und ihre Ansprache zeigte tatsächlich Wirkung. Es kam Ruhe in die aufgeheizte Masse, obwohl die Stimmung grade zu kippen drohte. Mit „My Old Man“ brachte sie die Situation wieder unter Kontrolle und als sie dann das in den höchsten Tönen tirilierende „California“ auf dem Hackbrett anstimmte, erreichte sie endlich eine größere Menge der Anwesenden. Zurück an der akustischen Gitarre gewann sie mit dem neckischen „Big Yellow Taxi“ die Oberhand und schob das nachdenkliche „Both Sides Now“ nach. Spätestens nach „Gallery“ war das Eis dann endgültig gebrochen und die Künstlerin ging letztlich glücklich von der Bühne.
Das war ein Triumpf des Mutes und der Gradlinigkeit. Musikalisch war der Auftritt typisch für die damalige Folk-Szene: Die Musikerin trug alleine, nur durch ein Instrument begleitet, ihre meist introvertierten Schöpfungen vor und zeigte dabei ungeschminkt ihre innere Einstellung. Aber es war schwierig, die gewünschte Intimität vor einer unruhigen, riesigen Menge von Leuten aufzubauen. Das gelang mit Piano-Unterstützung eindringlicher als mit Gitarre oder Hackbrett. Die Kamera hielt oft brutal in Großaufnahme alle Regungen fest, die sich in Joni Mitchells Gesicht zeigten. Das Filmmaterial wird so beinahe zum Psychogramm einer unter extremen Stress stehenden Interpretin. Der Auftritt ist in allererster Linie als historisches Dokument wichtig und wird auf dem Tonträger noch mit Eindrücken jenseits der Bühne unterlegt. Der Film kann als reine Konzertveranstaltung (56 Minuten) oder mit aktuellen Kommentaren der heute 74jährigen Protagonistin, die Aufschlüsse über ihre damalige Verfassung und ihre musikalischen Vorstellungen vermitteln, wiedergegeben werden. Diese Variante ist 76 Minuten lang.

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