PAUL SIMON - In The Blue Light (2018)

PAUL SIMON hat zehn seiner Songs überarbeitet und dabei bewusst auf Hit-Singles verzichtet. Das Ergebnis ist betörend und jetzt unter dem Titel IN THE BLUE LIGHT erschienen. 

Blick zurück nach vorn: Paul Simon überdenkt und überarbeitet seine Kompositionen.

Paul Simon, der grade auf Abschiedstournee ist, veröffentlicht mit „In The Blue Light“ sein vierzehntes Solo-Album, auf dem er zehn Songs aus seinem Repertoire neu eingespielt hat. Zur Motivation und zum Konzept äußert er sich so: „Auf diesem Album sind die Songs versammelt, denen noch der letzte Feinschliff fehlte oder die beim ersten Hören skurril klangen und deswegen wenig Beachtung fanden. Ich überarbeitete die Arrangements und harmonischen Strukturen, feilte aber auch an den Texten, damit deren Bedeutung klarer wurde. So realisierte ich auch selbst, was ich eigentlich mit den Lyrics transportieren wollte, wurde mir über meine Gedanken klar und konnte sie deutlicher zum Ausdruck bringen. Ich nutzte diese Gelegenheit, die es mir noch dazu ermöglichte, mit außergewöhnlichen Musikern zu spielen, die bisher an keiner meiner Aufnahmen mitgewirkt haben. Ich hoffe, dass ich den Songs neuen Schwung verleihen konnte, so wie man einem alten Wohnhaus einen neuen Anstrich verpasst.“
Paul Simon benötigt grundsätzlich keine Vorstellung mehr, sein künstlerischer Werdegang und seine Entwicklung schon eher. Als Harmony-Folk-Pop-Musiker brachte er mit seinem Partner Art Garfunkel ab Mitte der 1960er Jahre gemeinsame Platten raus und wurde bis zur Auflösung der Zusammenarbeit im Jahr 1970 weltberühmt. Seine frühen Solo-Hits wie „Loves Me Like A Rock, 1973“, „Kodachrome, 1973“ oder „50 Ways To Leave Your Lover, 1975“ sind Klassiker und natürlich kennen viele Musikfreunde die weltmusikalischen Zusammentreffen auf „Graceland“ (1986). Simon genießt den Ruf eines hochgeachteten, souveränen sowie nachdenklichen Singer-Songwriters, der künstlerisch etliche Wendungen und Experimente ausprobiert. Deshalb gilt der sensible Mann heute durchaus mit Fug und Recht als kreativer Art-Pop-Künstler.
Bei seinen Studio-Alben gab es oft außergewöhnliche Überraschungen, neue Sounds und anspruchsvolle Arrangements zu erleben. Der introvertierte Künstler konzentrierte sich darauf, seine Arbeit ehrlich und unverstellt umzusetzen. Paul Simon hat sich dabei nicht nur als phantasievoller Klanginstallateur, sondern auch als Experte für komplexe Rhythmen gezeigt. Diese Leidenschaft trat besonders bei „Graceland“ und dem Nachfolgealbum „The Rhythm Of The Saints“ (1990) zutage. Aber auch das letzte Studiowerk „Stranger To Stranger“ (2016) profitierte von verschlungenen Takten und seltsamen Geräuschen.
Paul Simon: In The Blue Light (CD) – jpc
Für „In The Blue Light“ hat Paul über sein bisheriges Lebenswerk nachgedacht, was zu vorsichtigen Neudeutungen und speziellen Konkretisierungen seiner Songs führte. Erstaunlich ist dabei, dass er bei der Auswahl gänzlich auf die bekannten und berühmten Songs verzichtete. Besonders scheint ihm sein Werk „You`re The One“ aus 2000 am Herzen zu liegen, denn davon gibt es vier Tracks in geändertem Gewand zu hören. Dafür überraschenderweise nichts von seinem vielgelobten Solo-Debüt von 1972 oder von seinem berühmtesten Werk „Graceland“. Als Mitspieler wählte der 76jährige unter anderem erfahrene Jazz-Musiker wie Wynton Marsalis (Trompete), Bill Frisell (E-Gitarre) nebst Jack deJohnette und Steve Gadd (beide Schlagzeug) aus. Außerdem wurde das sechsköpfige New Yorker Kammermusikensemble yMusic (Trompete, Flöte, Klarinette und Streichinstrumente), das auch schon „So There“ von Ben Folds im Jahr 2015 intellektuell unterstützte, als Soundgestalter engagiert.
Bei der neuen Version von „One Man’s Ceiling Is Another Man’s Floor“ („There Goes Rhymin` Simon“, 1973) wird die Delta-Blues-Basis durch Tempo-Reduzierung deutlicher herausgearbeitet und durch New Orleans-Jazz-Bläser in einen weiteren traditionellen Zusammenhang gestellt. „Love“ von „You`re The One“ ist im Original ein fragiler Pop-Jazz und erfährt aktuell nur eine unwesentlich höhere atmosphärische Dichte. „Can`t Run But“ spielt auf „The Rhythm Of The Saints“ (1990) einen exotischen, rhythmisch-hypnotischen Reiz aus, wie ihn auch die Gamelan-Musik aus Bali verströmt. Die aktuelle Einspielung wird durch yMusic in den Bereich der avantgardistischen Kunstmusik befördert. Der Film und Soundtrack zu „One Trick Pony“ kam 1980 beim Publikum und den Kritikern nicht gut an, enthielt aber trotzdem einige sehr schöne Lieder. So wie die Ballade „How The Heart Approaches What It Yearns“, die nun im Jazz-Gewand anspruchsvoll aufbereitet wurde. „Pigs, Sheep And Wolves“ von „You`re The One“ hinterließ damals einen etwas albern-überflüssigen Eindruck und bekommt jetzt durch den Marching-Band-Sound mehr Seriosität verordnet. Dennoch ist immer noch zu erkennen, dass es sich hier nicht um eine Top-Komposition von Paul handelt. Der ausgeklügelte, feingliedrige Pop von „René And Georgette Magritte With Their Dog After The War“, der auf dem unterbewerteten Album „Hearts And Bones“ von 1983 zu finden ist, bekommt einen kammermusikalischen, elitären Anstrich verliehen, der dem Lied eine entrückte Färbung verleiht, ohne seine Raffinesse anzutasten.
Betrachtet man den neuen Klassik-Folk-Jazz-Zuschnitt von „The Teacher“ (Ursprung: „You`re The One“), so vermittelt das Stück den Eindruck, dass es genauso aus der Feder von Sting stammen könnte. „Darling Lorraine“ (auch von „You`re The One“) enthält auch aktuell Vibrationen, die an die afrikanischen Einflüsse bei „Graceland“ erinnern. Bei der Neufassung wird obendrein das erzählerische Element des Liedes hervorgehoben. Paul singt teilweise so, als würde er sich in einem großen, leeren Raum vor und zurück bewegen. Die Story bekommt dadurch ansatzweise eine Inszenierung wie ein Hörspiel verliehen. „Some Folks` Lives Roll Easy“ vom 1975er Werk „Still Crazy After All These Years“ wird vom beschaulichen Country-Folk in ein verspielt-intellektuelles Vocal-Jazz-Stück transformiert. Dadurch erscheint es strenger und akademischer als die Vorlage. Jegliche entspannte Gemütlichkeit ist somit einer unbehaglichen Tragik gewichen. Die Song-Auswahl lässt auch dezente, wenig auffallende, eher unscheinbare Lieder wie „Questions For The Angels“ von „So Beautiful Or So What“ aus 2011 zu verdienten Ehren kommen. Hier ergab sich allerdings kein erhebliches Veränderungspotential.
Paul Simon hat seine Schöpfungen grundsätzlich nicht radikal verändert, sondern sensibel angepasst. Herausgekommen sind einige Varianten, bei denen die Überarbeitung für eine Präzisierung der Wirkung und Bedeutung sorgt. Simon fügt seinem erstaunlichen Alterswerk mit „In The Blue Light“ damit eine genaue Standortbestimmung und ein weiteres kreatives Ausrufezeichen hinzu. Die behutsamen Interpretationen führen meistens zu geschmackvollen Veränderungen und damit schafft diese Vorgehensweise eine sinnvolle Alternative zu Best-Of-Zusammenstellungen. Es ist zu hoffen, dass diese Art der Aufarbeitung auch andere Künstler animiert, Teile ihres Repertoires auf einen aktuellen Erkenntnisstand zu setzen, um so eine reifere, eventuell verblüffende Sichtweise auf ihre Arbeit freizugeben. Bekanntes verändern, anstatt Bekanntes zu reproduzieren sollte grundsätzlich die Devise bei Retrospektiven werden. Paul Simon hat jetzt vorgemacht, wie dies würde- und gehaltvoll von statten gehen kann.

Und ein paar einleitende Worte vom Meister hier:

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