The Clash - London Calling (1979 / 2019)

Verrat am Punk oder natürliche Weiterentwicklung? „London Calling“ von The Clash machte Punk 1979 durch Stil-Fusionen salonfähig und bekam jetzt nochmal eine klangliche Auffrischung verpasst.
Die Punk-Bewegung hat in England bis zum Ende der 1970er Jahre mindestens zwei Gruppierungen hervorgebracht, die außer ihrem Bürgerschreck-Verhalten auch Musik entworfen haben, deren Wirkung den provokanten und aufrührerischen Zeitgeist überdauert hat. So erlangte „ Here`s The Sex Pistols“ der Sex Pistols von 1977 bereits Rock-Klassiker-Status. Und The Clash bewiesen mit einem wesentlich umfangreicheren Output, dass sich Punks von Dilettanten zu ernsthaften, qualifizierten Musikern entwickeln konnten. Die Band lernte von 1976 bis 1979 handwerklich, ideologisch und geschmacklich so viel dazu, dass das Punk-Image für ihr drittes Album „London Calling“ (das eigentlich „The Last Testament“ heißen sollte) viel zu eng geworden war.
Im Grunde genommen ist diese gelebte musikalische Öffnung sogar noch viel radikaler und bahnbrechender als die schnoddrige, pöbelnde Punk-Haltung ausgefallen. Denn mit „London Calling“ präsentierte das Quartett mitreißende, bissige, originelle, abwechslungsreiche Musik, bei der mit Soul, Pop, Rhythm & Blues und Jazz Genre-fremde Stile eingebunden wurden. Die Integration von Rockabilly, Reggae und Ska war ja schon vorweggenommen worden.
Der wütende Gesang von Frontmann, Rhythmus-Gitarrist, Komponist und Pianist Joe Strummer, der 1952 in Ankara (Türkei) geboren wurde, stachelt den ruhelos marschierenden Opener „London Calling“ an 
und zackige Riffs des ehemaligen Hard-Rock-Gitarristen Mick Jones verleihen ihm Biss und Entschlossenheit. Die Cover-Version der Rockabilly-Nummer „Brand New Cadillac“ von Vince Taylor wies die Musiker dann auch als Kenner der Szene aus, die musikhistorisch nicht weniger gesellschaftsverändernd und aufrüttelnd als Punk war. Das Stück erinnert daran, wie heiß der frühe Rockabilly sein konnte und wie er die Kids der 1950er Jahre elektrisiert haben muss. Jedenfalls lässt die Clash-Version diese musikalische Revolution energisch auferstehen. „Jimmy Jazz“ ist ein beinahe schon komödiantischer Fake-Jazz, der nicht die üblichen Strukturen bedient, dafür aber mit humorigen Einlagen aufwartet. Er ist nebenbei eine Paradenummer für den versierten, vom Jazz beeinflussten Schlagzeuger Topper Headon geworden.
Der schwungvolle Rocker „Hateful“ beinhaltet so viele konsensfähige Pop-Anteile, dass er zwar Mainstream-Radio-tauglich ist, aber durch den strammen Rhythmus dennoch aufrührerische Qualitäten freisetzt. „Rudy Can't Fail“ spielt mit Reggae- und Ska-Roots, die undogmatisch aufgearbeitet wurden. Den Vogel hinsichtlich offensichtlichem, herausragendem Hit-Potential schießen jedoch der unwiderstehliche, politisch motivierte Pop von „Spanish Bombs“ und das leichtfüßige, erst in letzter Minute auf das Album genommene „Train In Vain“ ab. „The Right Profile“ ist eine Hommage an den durch einen Unfall entstellten Schauspieler Montgomery Clift, von dem deshalb nur noch dessen rechte Gesichtshälfte gezeigt wurde. Der Künstler zerbrach seelisch an diesem Zustand und verfiel dem Alkohol und Schmerztabletten. The Clash portraitieren und kommentieren diese Auswirkungen mit Hilfe des torkelnden, zickigen Punk-Jazz-Chansons. Bei „Lost In The Supermarket“ übernimmt Bassist Paul Simonon den Lead-Gesang, der wesentlich stromlinienförmiger als der von Joe Strummer ist, was diesem tanzbaren Song allerdings hinsichtlich Eingängigkeit zu Gute kommt.
Geradeaus und ohne Schnörkel läuft „Clampdown“ ab und bildet deshalb eine unverwüstliche Schnittstelle zwischen Punk und Hard-Rock. Der durch den dröhnend-wuchtigen Bass von Simonon veredelte Reggae „The Guns Of Brixton“ bekommt die Unnachgiebigkeit und Wucht des Punk zu spüren, so dass sich eine gewisse Coolness nur ansatzweise durchsetzen kann. Rhythm & Blues und Ska begegnen sich bei „Wrong 'Em Boyo“, während „Death Or Glory“ genauso wie „Koka Kola“ auf die euphorisierende Wirkung von simplem Fun-Punk setzt. „The Card Cheat“ versucht sich am sinfonischen Pop. Es wird jedoch nicht klar, ob dieses Experiment als Huldigung oder Persiflage gedacht ist. Die Zutaten Power-Pop und Soul machen aus „Lovers Rock“ und „I'm Not Down“ erwachsene, intelligente Songs. „Four Horsemen“ transformiert den 50er-Jahre-Rock & Roll traditionsbewusst in die von Umbruch gekennzeichneten, sich musikalisch neu orientierenden Endsiebziger-Jahre. Der Reggae „Revolution Rock“ feiert unterdessen beschwingt und ausgelassen den Aufruhr.
Ohne den Willen, Schubladendenken beiseite zu lassen und Scheuklappen zu verbieten, wäre „London Calling“ nicht möglich gewesen. Dafür waren Zugeständnisse nötig, die für ein klares Klangbild, geschmeidige Arrangements und eine Annäherung an den Mainstream gesorgt haben. Aber The Clash blieben vor allem eine politisch motivierte, angriffslustige Gruppe, die ihre Botschaften nun raffinierter unter die Leute brachten Wobei sie versuchten, das Publikum durch Vielfalt und Qualität auf ihre Seite zu ziehen. „London Calling“ ist jedenfalls verdammt clever und ein beeindruckendes Doppel-Album geworden, das eine ähnlich wichtige Bedeutung in der Clash-Diskografie hat, wie „Exile On Main Street“ für die Rolling Stones.
Zum vierzigsten Jubiläum gibt es nun eine klanglich überarbeite, voluminös-vollmundige Version, die als CD-Variante genauso aufgemacht ist wie die ursprüngliche Vinyl-Ausgabe. Sie beinhaltet also zwei CDs in einem transparenten Slipcase. Das war es allerdings auch schon mit den Besonderheiten. Gab es zum 25sten Jahrestag als Beigabe noch eine CD mit 21 Demo-Aufnahmen („The Long Lost Vanilla Tapes“) und eine DVD mit einer Dokumentation über die Entstehung des Werkes („The Last Testament“) und zum 30sten Geburtstag immerhin noch die DVD als Bonus, so wird jetzt gar kein zusätzliches Material beigesteuert. Das ist eine ziemlich magere, enttäuschende Veröffentlichungspolitik. Deshalb lohnt sich diese Doppel-CD nur für beinharte Fans, die alle Ausprägungen haben müssen. Am 15.11.2019 erscheint übrigens noch eine Scrapbook-Ausgabe. Das ist ein 120seitiges Hardcover-Buch (mit beiliegender CD) über die Entstehungsgeschichte des Albums, welches mit handgeschriebenen Texten, Notizen und Fotos illustriert wurde.

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