Nils Frahm - All Encores (2019)

Zugaben: Nils Frahm ergänzt bei "All Encores" seine Veröffentlichungen mit einer Zusammenstellung aus besinnlichen und hypnotischen Klängen.

Nils Frahm baut Ruhe und Stille in seine Kompositionen ein. Das Experimentelle wirkt deshalb nicht anstrengend, sondern wird Teil eines organischen Vorgangs, der keine Möglichkeiten von vornherein ausschließt. Stilzuordnungen wie Klassik, Jazz, Ambient, Avantgarde oder Pop verlieren ihre Bedeutung. Die Töne purzeln, rauschen, klopfen, wispern und zirpen in unterschiedlichen Intensitäten und Tempi, als verfolgten sie das Ziel, beim Hörer Staunen, Neugierde oder Achtsamkeit hervorzurufen. Die Anordnung der Kompositionen erscheint nicht zufällig, sondern scheint mit mathematischer Logik festgelegt worden zu sein. So eröffnet sich ein Klangkosmos, der viele Freunde von anspruchsvoller Unterhaltung vereinen kann. Darauf beruht wahrscheinlich auch der große Erfolg von „All Melodies“ aus 2018.
Hinter „All Encores“ steht allerdings ein etwas anderes Konzept. Die Veröffentlichung beinhaltet die Zusammenfassung von drei vorab herausgegebenen EPs mit voneinander unabhängigen und abweichenden Herangehensweisen. Die Idee dafür entstand schon vor den Arbeiten zu „All Melody“, wurde dann aber erst einmal zurückgestellt. Diese klanglichen Inseln - wie Frahm die drei Teile nennt - bilden jetzt quasi einen Rahmen um das aktuelle Werk.
„Encores 1“ (Track 1 bis 5) stellt einen kammermusikalischen Aspekt in den Vordergrund und neben Nils Frahm stellen sich noch Sven Kacirek an der Bass-Marimba, der Trompeter Richard Koch und die Cellistin Anne Müller in den Dienst, verhangene Tonmuster zu entwerfen. Bei „The Roughest Trade“ versuchen romantische Melodielinien in einer Klangwelt, die von Auflösung bedroht ist, zu überleben. Der Ausgang dieses Anliegens bleibt ungewiss, weil das Ende des Stücks unverhofft eintritt und plötzlich verhallt. 
Die einleitende Trompete von „Ringing“ klingt leidend und gequält. Das Klavier reagiert darauf entsprechend betrübt, mitfühlend und versunken, während es bei „To Thomas“ scheint, als würde die Luft unregelmäßig mit Tautropfen benetzt werden. Solche introvertierten Assoziationen prägen die Tonwerdung und vermitteln ein entrücktes, geistesabwesendes Bild, das für „The Dane“ etwas aufgehellt wird und die Tautropfen sinnbildlich verspielt an der Fensterscheibe herunter laufen lässt. Bei „Harmonium In The Well“ dominieren dann atmende, schwellend-gleitende Harmonium-Wellen den Sound.
„Encores 2“ (Track 6 bis 9) spielt sich in Ambient-Gefilden ab. Wie bei einer alten Spieluhr kreiseln die Töne bei „Sweet Little Lie“ ständig und unverdrossen um Sehnsucht, Trauer und Hoffnung. Noten, klar und frostig wie Eiskristalle gibt es bei „A Walking Embrace“ in einer bedächtigen Atmosphäre zu hören. Blanke Tristesse vermitteln die schwellenden Töne beim mit Schwermut beladenen „Talisman“. 
Da kommen Erinnerungen an Popol Vuhs düstere „Nosferatu“-Schauer-Beschallungen auf. Das zwölfminütige „Spells“ greift diese Stimmung zunächst auf, lässt sich dann aber zu einem Dauer-Flirt mit schnellen Club-Beats animieren und erweckt Eindrücke von flackernden Tanzsälen und orientalischen Traditionen.
Das ist quasi der Übergang zu „Encores 3“ (Track 10 bis 12), das sich schwerpunktmäßig rhythmischen Aspekten widmet. Zur Einstimmung gibt es mit „Artificially Intelligent“ jedoch zunächst ein kurzes, experimentelles Stück mit exotischen Tönen. „All Armed“ spinnt die Orient/Okzident-Kooperation von „Spells“ weiter, ist dabei aber hypnotischer und druckvoller ausgerichtet.
„Amirador“ sorgt für erhabene, mächtige Momente. Spacig sirrende und schwirrende Ton-Kaskaden türmen sich zähfließend zehn Minuten lang auf und schaffen Klang-Strukturen, die nach fremden Welten, Abenteuer und Gefahr klingen. Danach wird die Lautstärke vier Minuten lang auf null gesetzt. Ein Statement für die Stille!?
Nils Frahm macht anspruchsvolle, sogenannte ernste Musik auch für Klassik-Musik-Muffel interessant, weil sie nicht akademisch, sondern ergreifend, feinfühlig, nachvollziehbar, aber manchmal auch frech und unbedarft dargeboten wird. Frahm ist ein Tüftler, dessen Musik meditativ ist, ohne dass leere esoterische Hülsen erzeugt werden. Sie ist kunstvoll, ohne sinnentleerte Tonfetzen zu produzieren. Deshalb zieht der Künstler nicht nur Hörer aus dem Klassik-Lager an, sondern erreicht mit seinen klug verschachtelten Kompositionen auch andere Musikfreunde, die das Zuhören und Erforschen von Klängen noch nicht verlernt haben und Spaß am Entdecken von Ungewohntem und Ungewöhnlichem haben.
Erstveröffentlichung dieser Rezension: Nils Frahm - All Encores

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