Lost & Found-Portrait: Phil Ochs - Zwischen den Stühlen.

Es ist ein Glücksfall, wenn Anspruch und Massenkompatibilität in der populären Musik zusammentreffen. Nicht zuletzt deshalb, weil nicht nur Talent und Vermarktungsstrategie entscheidend sind, sondern auch der Zeitgeist diese Verbindung unterstützen muss. 

Der tragische Held einer solchen teils glücklichen, teils fatalen Konstellation war Phil Ochs. Als Bestandteil der New Yorker Greenwich Village Folk-Szene und der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung Anfang der sechziger Jahre in den USA passte sein Auftreten in die damalige Jugendbewegung und er schwamm zunächst als Identifikationsfigur auf einer Sympathiewelle. Im Laufe der Zeit wurde ihm dann die künstlerische Entwicklung immer wichtiger und die Puristen kehrten ihm deshalb den Rücken. Er gewann aber nicht im gleichen Maße neue Hörerschichten hinzu. 
Life of a Rebel: About Phil Ochs
Philip David Ochs wurde am 19. Dezember 1940 in El Poso, Texas, geboren. Er wuchs mit einer älteren Schwester und einem jüngeren Brüder auf. Seine Mutter kam aus Schottland, die Vorfahren seines Vaters aus Polen. Phils Vater war Arzt, er konnte aber keine eigene Praxis aufbauen, da seine manisch-depressiven Störungen keine konstante Arbeit ermöglichten. Deshalb schlug er sich mit Gelegenheitsjobs in unterschiedlichen Kliniken durch, was zu häufigen Umzügen und relativ bescheidenen ökonomischen Verhältnissen führte. 

Auf Grund dieser Umstände konnte Phil keine langfristigen Freundschaften pflegen und verbrachte stattdessen jede freie Minute im Kino. Seine Heiden waren John Wayne, Marlon Brando und James Dean. Er verehrte deren Einsatz gegen Ungerechtigkeit sowie deren Standhaftigkeit und Mut. Diese Tugenden übernahm er für sein Leit- und Weltbild. Musikalisch prägten ihn die Rebellen Hank Williams. Johnny Cash und vor allem Elvis Presley. 

1958 begann er mit 18 Jahren ein Studium der Journalistik. Ein Jahr später übernahm Fidel Castro zusammen mit Che Guevara die Macht in Cuba. Die Helden der Revolution wurden auch Phils Helden. In Zuge dieser Identifikation bildete und engagierte er sich zunehmend politisch. Zwischenzeitlich schmiss er dafür das Studium hin, um durch die Lande zu ziehen. 

Nachdem der junge Rebell wegen Landstreicherei in Florida 15 Tage im Gefängnis saß, kam er halb verhungert wieder nach Hause und beschloss, Journalist, Musiker und Popstar zu werden. Sein Kommilitone Jim Glover machte ihn in dieser Phase mit den Protestsongs von Woody Guthrie und Pete Seeger bekannt. Dies war ein Meilenstein in Phils Leben: Aus dieser Begeisterung heraus gründete er zusammen mit Jim 1961 das Folk-Duo Singing Socialists (später nannten sie sich Sundowners). 

Nach ihrer Trennung ging Phil 1962 nach New York, wo er endgültig seine Bestimmung fand. In der aufblühenden Folk-Szene des Greenwich Village-Distrikts pflegte und entwickelte er sein Multitalent, aktuelle politische und soziale Themen verständlich und genau zu beschreiben und diese in packende Lieder umzusetzen. Er tat dies für das Folksong-Magazin „Broadside".
Phil Ochs - The Broadside Tapes 1 (1991, Vinyl) | Discogs
Es war die Zeit der Kubakrise, der Rassentrennung sowie der aufkeimenden Friedensbewegung. Hier fand Phil die Themen für seine Songs. Er kommentierte zeitnah und kritisch mit messerscharfem Verstand und träumte davon, die Welt verbessern zu können (ganz im Sinne seiner Film- und Musiker-Vorbilder). Aber auch davon, ein Star zu werden.

Einer seiner Kollegen bei „Broadside" war Bob Dylan. Sie freundeten sich an und verbrachten einige Zeit miteinander. So spielten sie sich auch gegenseitig ihre neuen Lieder vor. Dylan war begeistert von Phils kraftvollen Texten, seiner klaren Stimme, den mitreißenden Melodien und seinem hohen Arbeitstempo. 

Seinen ersten überregionalen großen Auftritt hatte Phil Ochs dann beim Newport Folk-Festival 1963: Er war so nervös, dass er nach dem Konzert erschöpft zusammenbrach. Die positiven Äußerungen der Folk-Song-Legende Pete Seeger und das allgemeine Medieninteresse am Festival brachten seinen Namen jedoch anschließend in die Schlagzeilen. Privat tat sich auch einiges in seinem Leben: Seine Freundin Alice wurde schwanger und sein Vater starb. Hin- und her gerissen zwischen Karriereträumen und Verantwortungsbewusstsein entschloss er sich dann doch zu heiraten, obwohl die Gründung einer Familie gar nicht in seine Planung passte. 

1964 erschien beim Elektra-Label seine erste CD "All The News That Fit To Sing" (der Titel bezieht sich auf das Motto der New York Times "All The News That' s Fit To Print".
Phil Ochs - All The News That's Fit To Sing - Vinyl LP - 1964 - UK ...
Er schwang sich damit zur Speerspitze der Protest-Song-Bewegung auf. Die LP wurde mit dem zweiten Gitarristen Danny Kalb (von Blues Project) aufgenommen. Dieser hatte die Aufgabe, das Tempo zu halten, da Phil dazu neigte, die Songs zu schnell zu spielen. Die Kompositionen bildeten damals z.B. auch die Inspiration für die deutsche Polit-Lied-Szene um z.B. Hannes Wader und Franz-Josef Degenhardt. 


Auch auf seinem zweiten Album "I ain‘ t Marching Anyrnore" von 1965 verkörperte der engagierte Musiker wieder das politische Gewissen der USA.
I Ain'T Marching Anymore - Ochs, Phil: Amazon.de: Musik
Er zog von einer politischen Veranstaltung zur nächsten und trug seine agitatorischen Lieder zwischen den Reden vor. Von der politischen Linken wurde er gefeiert. Er fühlte sich in dieser Rolle einerseits wohl, weil sie seinen Hang nach dem Kampf für Gerechtigkeit befriedigte, brachte ihn aber in seinem Durst nach Anerkennung nicht weiter, da er eben nicht die Ansicht der Mehrheit des amerikanischen Volkes vertrat. Er polarisierte politisch. Schließlich galt jeder, der sich kritisch über die Regierung oder Gesellschaft äußerte, als potentieller „Vaterlandsverräter". Privat ging seine Ehe in die Brüche. Das ruhelose Leben passte nicht zur Aufrechterhaltung familiärer Beziehungen. 

Zu alledem folgte auf dem Newport Folk-Festival des Jahres 1965 auch noch eine popmusikalische Umwälzung, die den Werdegang von Phil nachhaltig beeinflussen sollte: Bob Dylan packte die elektrische Gitarre aus und erfand den Folk-Rock. Das war ein Schlag ins Gesicht gegen die puritanischen Folkies. Dylan wollte nicht von irgendeiner Gruppierung vereinnahmt, sondern als eigenständiger Künstler wahrgenommen werden. Phil beneidete Bob deswegen. Es entwickelte sich fortan eine Hassliebe, da er ihn einerseits als „Verräter" im Kampf um eine bessere Gesellschaft ansah, andererseits aber künstlerisch bewunderte. 

Für den Anfang des Jahres 1966 war ein Schub für Phils Karriere geplant: Ein ausverkauftes Konzert in der Carnegie Hall in New York sollte für ein Live-Album mitgeschnitten werden, um seine Reputation als singender Journalist zu festigen sowie seine Entwicklung zum ernstzunehmenden Lyriker zu dokumentieren. Der Auftritt wurde ein Fiasko: Phil bekam Panik-Attacken und so war es ihm kaum möglich zu singen. Der Auftritt wurde in Boston wiederholt, war aber auch nicht durchgängig zur Veröffentlichung geeignet, so dass die meisten Aufnahmen ohne Publikum eingespielt und nachträglich mit Zuschauer-Reaktionen versehen wurden. Trotzdem erschien die Schallplatte im Frühjahr 1966 unter dem Namen "Phil Ochs in Concert". Einer der ersten großen Schwindel in der Popmusikgeschichte! 
Phil Ochs in Concert - Amazon.com Music
Ende 1966 feuerte Phil seinen Manager, weil dieser sich noch Phils Meinung zu wenig um die Entwicklung seiner Karriere kümmerte. Phil war jetzt 26 Jahre alt und hatte nicht viele Vertraute um sich herum. Deswegen bat er seinen Bruder Michael, das Management zu übernehmen. Dieser löste als erstes den Plattenvertrag mit Elektra. Phil hatte von seinen ersten 3 Platten nur etwa 40.000 Exemplare verkauft. 35% davon alleine in New York. Das mangelnde Echo auf seine Kunst nagte an Phils Selbstbewusstsein. Schließlich hatte er nach eigener Einschätzung an der Schwelle zum Weltruhm gestanden. 

Im „Summer of Love" 1967 verbrachte Phil Ochs einige Zeit in Los Angeles, um sich für seine neue Veröffentlichung "Pleasures Of The Harbor" inspirieren zu lassen.
Phil Ochs - Pleasures Of The Harbor - Vinyl LP - 1967 - US ...
Musikalisch war der reine Protestsong tot. Die Hippies übernahmen das Ruder und bestimmten die Jugendkultur. Das Experimentieren mit Klängen, Takten und Instrumenten war angesagt. Phil wagte den Neuanfang, denn er wollte den Anschluss nicht verlieren und verpasste seinen Kompositionen teilweise barocke, cineastische oder surreale Arrangements, die sich durchaus mit den Ideen von "Pet Sounds" und „Sgt. Pepper" vergleichen lassen. Der Titelsong
und besonders "The Crucifixion" gehören zu den beeindruckenden Songs ihrer Zeit. Bei "The Crucifixion" scheinen mehrere Lieder gleichzeitig ineinander verzahnt abzulaufen. Phil singt tapfer gegen den Sound-Strudel an, er ist die einzige Konstante in diesem Gebilde, quasi der Fels in der Brandung.
Mit „Pleasures Of The Harbor" hatte sich Phil allerdings wieder zwischen alle Stühle gesetzt, denn seine alten Fans mochten der Entwicklung in Richtung anspruchsvoller Pop-Musik nicht folgen. Neue Käuferschichten konnte er auch nicht hinzugewinnen, da Mr. Ochs für die einen als linker Kommunist galt und für die anderen nicht zur angesagten (Hippie)-Szene gehörte. Schließlich sah er auf dem Cover auch eher einem Hafenarbeiter ähnlich und nicht einem Pop-Star. Dementsprechend verkaufte sich das Album auch mäßig. Außerdem wurde die Single-Auskopplung „Outside of a small circle of Friends" von den Radiostationen boykottiert, da der Titel für eine Aufforderung zum Haschisch rauchen gehalten wurde. In Wirklichkeit prangerte der Song die Gleichgültigkeit zwischen den Menschen an, speziell die von Kiffern (!!), die sich für nichts anderes als den nächsten Joint interessierten. Für die Verbannung war ausschlaggebend, dass der Text die Zeile „Smoking Marihuana ls more fun than drinking beer" enthielt. Der Zusammenhang war den Kritikern egal. 
Neben der gesellschaftspolitischen Berichterstattung setzte Phil jetzt auch vermehrt poetische Formulierungen ein, blieb aber auch weiterhin kritisch und prangerte Missstände an. Sein politisches Engagement war ungebrochen, schließlich gab es in seinem geliebten Heimatland immer noch jede Menge Korruption, Ungerechtigkeit und Kriegshetzerei, gegen die angegangen werden musste. Er engagierte sich noch intensiver in der Anti-Vietnam-Kampagne und der Bürgerrechtsbewegung. In diesem Zusammenhang stand er u.a. mit Barbra Streisand, Leonard Bernstein und Harry Belafonte auf der Bühne. Phil hoffte auf Grund dessen immer noch auf seinen kommerziellen Durchbruch. 

Um am Puls der Musikszene zu sein, zog Phil 1968 ganz von New York nach Los Angeles. Kurz nach der Ermordung von Robert Kennedy - die ihn sehr traf - nahm er seine 5. Platte "Tape from California" auf.
Phil Ochs - Tape From California (1968, Vinyl) | Discogs
Hier verzichtet Ochs auf allzu üppige Arrangements und bezieht wieder eindeutig politische Stellung, wie in den Anti-Vietnam-Krieg-Songs "White boots marching in a yellow Land"
und "The War is over".
Außerdem ist das über 13minütige "When in Rome" enthalten, in dem die Lebensumstände in den USA mit der Dekadenz des antiken Roms verglichen werden. 

Nach den Aufnahmen begab sich Ochs auf eine 3wöchige Europatour, die ihn auch zum Pfingst-Festival auf Burg Waldeck (dem damaligen Mekka des europäischen Protest-Songs) führte, wo seine kritischen Songs großen Anklang fanden. Zurück in den Staaten nahm er am berüchtigten Protest zum Parteikonvent in Chicago teil, welcher von der Polizei brutal beendet wurde. Hierfür kaufte Phil ein Schwein, welches von den Yuppies (der Youth International Party, einer linken Studentenbewegung, denen er sich angeschlossen hatte) zum Präsidentschaftskandidaten gekürt wurde. Bei dieser Aktion wurde er festgenommen. Nicht etwa, weil er demonstriert hatte, sondern weil er gegen ein Gesetz verstieß, welches verbot, lebendes Vieh ungeprüft in die Stadt einzuführen.
 
Nach den Ereignissen in Chicago verfiel Phil Ochs in Selbstzweifel über die Wirkung seiner politischen Aktivitäten und den wechselhaften Verlauf seiner Karriere. Für ihn bedeutete die ausgeübte Staatsgewalt das Ende der Toleranz und wie er es ausdrückte, den Tod Amerikas, nämlich die Abkehr von den Grundwerten der Verfassung. Sollte sein Kampf für gerechte, liberale Zustände vergeblich gewesen sein? 

Diese depressive Phase führte jedoch nicht zu einer Lähmung seiner Kreativität, sondern brachte 1969 sein neues Werk „Rehearsals for Retirement" heraus.
Phil Ochs - Rehearsals For Retirement (1969, Vinyl) | Discogs
Auf dem Cover sah man einen Grabstein mit der Aufschrift: Phil Ochs, Amerikaner. Geboren: EI Paso. Texas, 1940. Gestorben: Chicago, Illinois, 1968. Handelte es sich bei dieser Aussage lediglich um schwarzen Humor oder um eine desillusionierte Sicht auf seine verpassten Ziele und Möglichkeiten? Die Musik jedenfalls war äußerst gelungen. Sie bot Singer-Songwriter-Stoff vom Feinsten, der stilistisch sehr weit gespannt war und sich nicht um die Zuordnung zu einer bestimmten Käuferschicht kümmerte. Phil bewies außerdem ein feines Gespür für zündende Melodien mit delikater Instrumentierung. Die Ereignisse in Chicago verarbeitete er in beißender Gesellschaftskritik wie im Song „The world began in Eden but ended in Los Angeles".
Er stellte die neuen Songs in der Carnegie Hall vor und wurde gefeiert. Die Verkaufszahlen von „Rehearsals for Retirement" waren mit nur ca. 30.000 Stück allerdings niederschmetternd, was den Künstler weiter verbitterte. 

Als er im gleichen Jahr das Comeback-Konzert von Elvis Presley in Las Vegas sah, war er völlig im Banne des „King". Er ließ sich eine Nachbildung des Goldlame-Anzuges, den Elvis trug, anfertigen. Gleichzeitig kündigte er an, diesen in Zukunft auf der Bühne zu tragen und Rock & Roll-Cover-Versionen von Elvis- und Buddy Holly-Songs in sein Repertoire zu übernehmen. Phil vertrat die merkwürdige Meinung, dass die Moral Amerikas nur noch zu retten sei, wenn Elvis als Revolutionsführer a la Che Guevara tätig würde. Er allein könne der Gesellschaft den rechten Weg weisen. 

Ochs wollte ein neues Album aufnehmen und da Larry Marks, der Produzent der letzten drei LPs, den Job ablehnte, fragte Phil Van Dyke Parks, der ja schon auf „Tape from California" mitgewirkt hatte. Parks schätzte Ochs' Werk, sagte zu und verabreichte ihm eine erneute Kurskorrektur. Die Songs klangen insgesamt country-rockiger, muskulöser und kompakter. Er hatte eine tolle Studiocrew beisammen, der u.a. Clarence White (Byrds), Chris Etheridge (Flying Burrito Brothers), Ry Cooder und James Burton (Elvis) angehörten. Das Album enthält auch wunderbar gefühlvolle Songs wie "Jim Dean of Indiana"
sowie "Boy in Ohio"
und als letzten Song auf der B-Seite "No more Songs" (was leider auch prophetisch war, denn es war der letzte Song, den Phil Ochs für ein Album aufnahm).
Phil war eben außerordentlich vielseitig, so dass er in jedem Genre souverän war. Er nannte die Scheibe "Greatest Hits", obwohl nur neue Lieder drauf waren und posierte auf dem Cover im besagten Goldlame-Anzug.
Greatest Hits - Phil Ochs: Amazon.de: Musik
Ironischerweise übernahm er von einer Elvis-LP den Spruch "50 Millionen Elvis Fans können sich nicht irren" und titelte ihn in "50 Phil Ochs Fans können sich nicht irren" um. Leider kam das der Wahrheit über die Verkaufszahlen sehr nahe, denn es wurden nicht einmal die Produktionskosten eingespielt.
 
Wir schreiben das Jahr 1970: Es kam der Moment, als Phil Ochs sein neues Konzept in „seiner" Carnegie Hall vorstellte und dabei kläglich scheiterte. Zugegeben, die Elvis und Buddy Holly-Nummern waren lächerlich, uninspiriert und unangebracht. Das Publikum wusste nicht, ob es sich um eine Parodie oder eine Hommage handeln sollte. Aber seine eigenen Songs brachte er mit Band in einer frischen, besonderen Note rüber. Trotzdem wurde das vom Publikum nicht honoriert, es wollte immer noch seinen alten Protest-Phil hören. Und es kam noch dicker: Die Carnegie Hall, der Ort einiger Niederlagen aber auch seiner größten Triumphe, erteilte ihm aufgrund der Tumulte bei seinen letzten Konzerten Auftrittsverbot. Und dann kam auch noch heftiger privater Ärger hinzu: Nach einem Streit mit seiner Freundin warf er ihre Sachen einfach vor die Tür, wo sie gestohlen wurden. Daraufhin verließ sie ihn. Seine Depressionen nahmen zu, da er jetzt auch nicht mehr an die Entwicklung seiner Karriere glaubte. Der Ehrgeiz verließ ihn und er wollte nur noch sein Geld ausgeben und auf Reisen gehen. 

Als er 1971 nach LA zurückkehrte, musste ihn sein Bruder darüber informieren, dass er nahezu pleite war. Das trieb ihn noch mehr zur Verzweiflung. Er soff, wurde zunehmend gewalttätiger und ließ sich gehen. Um allen Schwierigkeiten zu entgehen, sollte Chile zur neuen Heimat werden. Der Sänger Victor Jara holte ihn dort in seine Fernsehshow und Phil erreichte nationale Bekanntheit. Später spielte er noch ein paar Konzerte in den USA, versank aber immer mehr in einem Alltag aus Kinobesuchen und Alkoholkonsum.
 
1972 drängte er seine Plattenfirma den Carnegie Hall-Auftritt mit dem Goldlame-Anzug lokal begrenzt in dem Testmarkt Kanada herauszubringen, weil dort neben New York die meisten Phil Ochs-Fans waren. Der erhoffte Erfolg blieb aber aus und so wurden die Aufnahmen sonst nirgends veröffentlicht.
 
Im September 1973 trat Phil Ochs in Ostafrika auf. Bei einem nächtlichen Spaziergang am Strand wurde er überfallen und dabei so gewürgt, dass seine Stimmbänder irreparabel verletzt wurden. Höhere Tonlagen konnte er von da an nicht mehr singen. Immerhin blieb der Musiker weiterhin aktiv: 1974 organisierte er im New Yorker Central Park eine Gedenkfeier zu Ehren des ermordeten chilenischen Präsidenten Allende. Neben Arlo Guthrie und Pete Seeger nahm auch Bob Dylan teil. 1975 fand unter seiner Leitung noch das „War is over"- Konzert mit Joan Baez, Bob Dylan, Pete Seeger und Tom Paxton statt. 

Danach sah man Phil Ochs nur noch verwahrlost herumlaufen. Er stank, war verfettet und unfähig Songs zu schreiben und zu interpretieren. Es äußerten sich auch schizophrene Züge, denn er nannte sich John Train und behauptete, er habe Phil Ochs getötet. Er war jetzt obdachlos, schlief manchmal bei Bekannten und hatte immer irgendwelche Waffen, z.B. Hämmer oder Messer bei sich, weil er glaubte, die CIA und das FBI seien hinter ihm her (später stellte sich heraus, dass er tatsächlich schon seit 1963 überwacht wurde). Mit 35 Jahren hatte er alles verloren, sogar den Verstand.
 
In einem klaren Moment im Januar 1976 suchte er seine Schwester Sonny auf, um bei ihr zu wohnen. Für seine Neffen David und Jonathan war er der berühmte Onkel, den sie aus dem Radio kannten. Sie schauten zu ihm auf, was ihm etwas Auftrieb gab. Dennoch bekam er die Kurve nicht mehr. Am 9. April 1976 fand sein Neffe David Phil Ochs erhängt im Badezimmer. 

War er ein Opfer einer Erbkrankheit seines Vaters geworden? Hatten ihn die Rückschläge in seiner Karriere in die Verzweiflung getrieben? Hatten ihn die nicht zu vereinbarenden Gegensätze zwischen politischer Korrektheit und angestrebter Pop-Karriere zermürbt? Bereute er, als er bei seiner Schwester erfuhr, was Familien-Idylle bedeutete, dass er sich nicht besser um seine Tochter gekümmert hatte? Verlor er das Vertrauen in einer bessere Welt, weil viele seiner Leitfiguren ermordet wurden (die Kennedys; Martin Luther King; Allende; Victor Jura) und sich andere, für die er Sympathien hegte, als Verbrecher rausstellten (z.B. Idi Amin)?
 
Wahrscheinlich kam alles zusammen. Phil Ochs war auf jeden Fall auch ein Opfer seiner Zeit geworden und litt außerdem an einer zerrissenen Persönlichkeit. Er war ein Kämpfer für Frieden und Gerechtigkeit, seinen eigenen Frieden fand er dabei aber nicht, weil er oft zwischen allen Stühlen saß. Er überschätzte sich und seine Kräfte und rieb sich an seinen Zielen auf. Er ließ sich nie verbiegen, sagte immer, was er dachte, obwohl er dafür im Fernsehen und Radio mit Sendeverbot belegt wurde. Seine Songs waren nie typische Liebeslieder, er konnte aber ungemein lyrische Texte verfassen und zarte Musik erfinden. Sein Name steht noch heute für Gradlinigkeit und die Möglichkeit, gesellschaftspolitische Umwälzungen mit Hilfe beherzter, unbeugsamer Musiker zu unterstützen. Seine Stimme und Ausdruckskraft haben die Zeit überdauert und seine glaubwürdigen Songs bereichern immer noch jede gut sortierte Plattensammlung. 





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