Matt Berninger - Serpentine Prison (VÖ: 23.10.2020)

Früher war mehr Provokation, mehr Kontrast, mehr extrovertierter Aufruhr. Aber in Matt Berningers Kompositionen steckte auch schon immer das Gespür für tiefschürfende Erkenntnisse, ergreifende Emotionen und zeitlos schöne Melodien, die er mit seinem einnehmenden Bariton zu Hymnen aufwertete. Mit den 1999 gegründeten The National reifte er rasch zum eigenständigen, besonderen Songwriter heran, der mit einem Fuß im experimentellen Art-Pop und mit dem anderen in traditionellen Roots-Rock-Bereichen steht.

Aber warum musste jetzt ein Solo-Album produziert werden, hätten die entwickelten Ideen nicht auch mit The National umgesetzt werden können? Eigentlich war zunächst ein Cover-Versionen-Album geplant. Der Produzent Booker T. Jones (ex-Booker T. & The MG`s, größter Hit: "Green Onions") favorisierte aber die parallel geschriebenen eigenen Songs von Matt und so entstand mit Hilfe von etlichen Gastmusikern der aktuelle Song-Zyklus.

Auf "Serpentine Prison" singt Matt stets ruhig, gelassen, souverän und anrührend. Er mutiert mehr und mehr zum reifen, keinem Genre direkt zuordenbaren, introvertierten Songwriter und befindet sich dabei in guter Gesellschaft mit z.B. M.C. Taylor von Hiss Golden Messenger, Bill Callahan, Bonnie "Prince" Billy, Sufjan Stevens oder Kurt Wagner von Lambchop.

Matt Berningers Entwicklung ist grob mit der von Nick Cave zu vergleichen. Der Australier begann musikalisch ungestüm mit The Birthday Party und zelebrierte am Anfang seiner Karriere wilde Anarcho-Punk-Blues-Gemetzel. Nach und nach traten jedoch seine Crooner-Qualitäten zu Tage, die er authentisch, intensiv und subtil, auf jeden Fall aber auch nachhaltig und ausdrucksstark auslebte. Berninger war zwar nie so extrem wild, aber in ihm pochte auch ein Rock & Roll-Herz. "Serpentine Prison" zeigt jetzt einen abgeklärten und kultivierten Musiker. Ihn mit seinen grade mal 49 Jahren altersweise zu nennen, ist nicht despektierlich gemeint, sondern soll ausdrücken, wie durchdacht und souverän seine Musik wirkt. Seine Erfahrung führt jedoch nicht zu erstarrender, lähmender Routine, sondern begleitet den kreativen Prozess mit Übersicht und Intelligenz.

So erscheint der Opener "My Eyes Are T-Shirts" im zurückhaltenden Erzählstil und wird durch ethnische Trommeln geerdet. Rauschhafter Folk-Jazz bestimmt die instrumentale Begleitung, die den Track beinahe frei fließend, sehnsüchtig und jauchzend begleitet, als würde er sich in dämmrigem Licht zurecht finden müssen.

Die selbstbewussten Riffs auf der akustischen Gitarre kündigen bei "Distant Axis" dann doch einen gewissen Rock & Roll-Antrieb an. Das Stück enthält üppige Passagen, die es größer erscheinen lassen, als es in Wirklichkeit ist. Im Kern verbirgt sich nämlich ein ruhiger Folk-Song hinter der Fassade, der seine Verletzlichkeit nur notdürftig kaschieren kann.
Wenn es besonders bedauernswert klingen soll, dann singt Matt für das locker swingende "One More Second" so leidend wie Stuart A. Staples von den Tindersticks. Aber der Song versinkt nicht im Jammertal, sondern lässt miterleben, wie der Sänger allmählich aufblüht, Kraft tankt und sich zu neuen Taten aufschwingt. Das kann überzeugend vermittelt werden, weil Booker T. Jones dem Stück einen erhebenden Southern-Soul-Groove verordnet. Berninger möchte den Song laut eigener Aussage als Antwort auf Dolly Partons "I Will Always Love You" verstanden wissen. Er wollte nämlich einfach ein verzweifeltes Liebeslied schreiben, das gut beim Auto fahren klingt. Das ist der Hit der Platte!
Wenn Country & Western auf Irish-Folk und Late-Night-Jazz trifft, dann kann kommt dabei sowas wie "Loved So Little" raus. Nämlich ein nachtgrauer Song, der seine Geheimnisse nicht vollständig preis geben möchte, ständig zum Licht strebt und sich dabei erfindungsreich treiben lässt.
Der nüchterne Duett-Gesang von Gail-Ann Dorsey (aus David Bowies Band) tut "Silver Springs" gut. Dadurch erhält das Lied eine stützende und ablenkende Klangfarbe, die den Eindruck einer konzentrierten Gesamtleistung unterstützt. Und das, obwohl Berninger bei dieser Vielseitigkeitsprüfung die Fäden in der Hand behält. Der Track weckt zahlreiche Assoziationen: Dem Ur-Americana-Sound von The Band wird gehuldigt, Bar-Jazz klingt an, Blues-Wurzeln kommen zum Tragen und Pop-Strukturen werden genutzt, um Harmonie zu etablieren. 

"Oh Dearie" könnte all jenen gefallen, die sich am Folk-Noir von Mark Lanegan nicht satt hören können. Das Stück strahlt trotz aller Melancholie eine tröstende Stimmung aus. Eine gleichförmig gepickte akustische Gitarre sorgt für Ausgeglichenheit und ein unaufdringliches Piano setzt erhellende Duftmarken. Ein zartes Schlagzeug und ein kaum wahrnehmbares, verbindendes Cello bereiten außerdem einen fruchtbaren Nährboden, auf dem sich Matts Bariton attraktiv ausbreiten kann.

"Take Me Out Of Town" sucht den Schulterschluss zwischen eingängigem Pop und anspruchsvollem Roots-Rock. Hierzu kreieren die Musiker eine sanft rollende Gänsehaut-Ballade, die noch durch exquisite Einzelleistungen der Instrumentalisten aufgewertet wird. Es bleibt introvertiert: Für "Collar Of Your Shirt" wird Matts Stimme prominent in den Vordergrund und die Mitte des Klangbildes gesetzt. Trotzdem wirkt die Erscheinung des Liedes demütig und uneitel. Entsprechend feingliedrig unterstützen die Gäste diesen meditativ ablaufenden, an Kammermusik angelehnten Song.

Mit "All For Nothing" baut Berninger eine Pop-Sinfonie auf, die das ganze Seelenleid der vorangegangenen Stücke in sich vereint und deshalb absichtlich pathetisch sowie relativ kurz gehalten wird. Alles andere wäre dem bisherigen Verlauf nicht gerecht geworden. Es musste irgendwann eine Konzentration auf die ausgelebten Empfindungen geben. Nun ist alles gesagt und getan, Normalität darf sich wieder einstellen. Deshalb kann das Titelstück auch keine neuen Akzente mehr setzen. Der Track glättet nur die Wogen und lässt das Album unspektakulär ausklingen. Berninger kümmert sich dabei nicht um die Schaffung von Innovationen, sondern sucht lediglich einen homogenen Weg zwischen Pop, Folk und Soul. Auf diesem wird der Hörer zurück in den Alltag begleitet. Der Kreis ist geschlossen.
Der Solo-Ausflug von Matt Berninger macht Sinn. Hier hat er Gelegenheit, sein Ego zu pflegen, aber auch künstlerisch seinen weiteren Weg auszuloten. Unter welchen Bedingungen kann es mit The National weitergehen? Soll die eigene Karriere nebenbei weiterlaufen oder zum Hauptbetätigungsfeld werden? Das sind weichenstellende Fragen, die sicher nach der Fertigstellung von "Serpentine Prison" klarer zu beantworten sind. Egal wie entschieden wird, wichtig ist, dass uns Matt Berninger auch in Zukunft als Aktivposten erhalten bleibt.

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