Levitation Orchestra - Illusions & Realities

Das Levitation Orchestra verbindet spirituellen Jazz mit Soul-Gespür und Kunstverstand.
In den 1970er Jahren gab es eine Fülle von unterschiedlichsten Jazz-Fusionen: Herbie Hancock, Chick Corea, Miles Davis, John McLaughlin, Oregon oder Weather Report waren einige der prominenten Vertreter, die dem Jazz ein neues Gesicht gaben und ihm durch Klassik-, Weltmusik-, Funk-, Rock-, Soul-Beigaben sowie frei improvisierten Passagen in der Tradition von Ornette Coleman, Charles Mingus oder Sun Ra einen offenen Charakter verschafften. In diesem Fahrwasser bewegt sich auch das Levitation Orchestra, das einen sehr weit gefassten Begriff der Stil-Mixe auslebt, wobei auch eine starke spirituelle Ausprägung zum Tragen kommt, wie sie beispielsweise Alice Coltrane (die Witwe von John Coltrane) in ihren Werken auslebte.
Mit aktuell 14 Mitgliedern und 10 verschiedenen Instrumenten handelt es sich bei dem Musiker-Kollektiv aus London wahrlich um ein recht üppig ausgestattetes Orchester mit breit gefächerten Ausdrucksmöglichkeiten, wobei zwei Stimmen das Instrumentalgeflecht wohltuend auffächern. "Illusions & Realities" ist das zweite Werk der schlagkräftigen Gruppe, nach "Inexpressible Infinity" aus 2019. Das Album erscheint als LP am 29. Oktober 2021 und als CD am 12. November 2021.

"Illusions & Realities" beginnt mit dem zweiteiligen Stück "Life Is Suffering / Send And Receive Love Only": Die von Natur aus wie ein Instrument aus einer anderen Welt klingende Harfe wird hier feingliedrig und kristallklar gezupft, so dass sie einen höchst filigranen Eindruck hinterlässt. Sie eröffnet für die weichen Geigen- und Flötentöne, die die Stimmung wie mit Seide überzogen ausfüllt, bevor ein satter Rhythmus für straffe Konturen sorgt. Die Sängerin und Multiinstrumentalistin Plumm aus Südlondon gibt dann mit ihrer markanten, herb-leidenden Stimme, die sowohl von Nina Simone wie auch von Janis Joplin beeinflusst ist, ein eindeutiges Statement ab: "Ich vertraue meiner Erfahrung, auch wenn sie seltsam ist." Sie stellt damit das Bauchgefühl als Ratgeber über den Verstand. Nach dem Gesangsbeitrag übernimmt eine verträumte Querflöte die Führung und bringt das Tempo allmählich zum Erliegen.
"Listen To Her" bekommt seine eigentliche Inspiration aus der asiatischen und afrikanischen Folklore. Diese Inhaltsstoffe hinterlassen allerdings nur flüchtige Duftmarken, so dass noch Raum für weitere Abenteuer bleibt. Der wilde, verrückt-vertrackte Progressive-Rock von Van Der Graaf Generators "Pawn Hearts" aus 1971 findet ebenso seinen Anklang wie auch ein Bass-dominiertes Spiel in Erinnerung an Charles Mingus, das von den wütend-provozierenden Spoken Words der Londoner Sängerin Dilara Aydin Corbett begleitet wird. Danach spielen sich der musikalische Leiter Axel Kaner-Lidstrom an der Trompete und die Tenor-Saxophone die solistischen Bälle zu.
"Spiral (Die, Die, Die)" beschreibt einen Thriller-Jazz der besonders aufwühlenden Art: Zunächst wird Angst und Fluchtverhalten ausgedrückt, dann folgt die eigentliche Verfolgung, worauf Verwirrung eintritt und ein paar Schockakkorde ausgesendet werden. Statt eines eindeutigen Endes bleibt der Ausgang der Story allerdings offen.
Für "Delusion" wird medizinisch als fachliche Ansprache erläutert, welche Verletzungen Wahnvorstellungen hervorrufen können. Vorher gibt es noch einen von Plumm versöhnlich gesungenen Abschnitt in einem turbulenten Big-Band-Taumel, bei dem die Begriffe Verwirrung, Klarheit, Fantasie, Illusion und Realität nebeneinander gestellt und als mögliche Wahrnehmungsmöglichkeiten angesehen werden. Danach übernimmt ein überhebliches, teils unbeherrscht agierendes Saxophon den Ton und drängt die anderen Teilnehmer in die Statistenrolle. Das gilt, bis Plumm mit menschlicher Wärme die Strenge auflöst und die Musik kurzzeitig wieder ausgleichend gestimmt ist. Aber dann legt sich eine bedrohliche Dramatik auf das Geschehen, die von den Geigen in ein orientalisch anmutendes Intermezzo übergeleitet wird. Auch diese Stimmung ist nicht von Dauer, es folgt dann die schon angesprochene Lesungs-Sequenz, die mit arabischem Flair ausklingt.
Die nächste mehrteilige Komposition heißt "Child" und ist in vier Abschnitte eingeteilt. "Part I" ist ein hingebungsvoller, von einer ruhigen E-Gitarre getragener Track, der Kontakt mit dem Weltraum aufnimmt und von geistlich geprägten Chorstimmen dorthin begleitet wird.
Das instrumentale "Part II" fühlt sich nicht nur im psychedelisch groovenden sondern auch im weltmusikalisch geprägten Jazz wohl, was zu einem globalen Musikverständnis führt.
"Part III" lässt dann wieder die in mystische Gefilde gleitende Harfe erklingen. Die leitende Geige ist hier sowohl romantisch wie auch alarmierend gestimmt, so dass der Track eine esoterisch angehauchte und eine aufregende Rolle übernimmt. Die Spoken Words verleihen dem Track zusätzlich eine beschwörende Komponente.
"Part IV" steht wieder voll auf dem Boden der Tatsachen. Zunächst wird die aufgebaute Spannung aufgelöst. Friedlich-beschwingt geht es los, aber nach fünf von acht Minuten Laufzeit wendet sich das Blatt. Das bislang kooperative, beinahe handzahme Saxophon begehrt mehr und mehr auf, erkämpft sich Freiräume und stachelt die übrigen Mitspieler zu energischen Aktionen an.
Elemente der dramatischen modernen Klassik vermitteln die über eine lange Zeit tonangebenden Streicher bei "Between Shadows". Das reicht von elegischer Trauer über schillernde Meditation bis hin zu prickelnd-improvisierter Tondichtung.
"Many In Body, One In Mind" könnte das Motto des Ensembles sein, denn die Akteure legen es stets darauf an, eine spannende Gesamtleistung abzuliefern, wobei jeder Musiker eine Möglichkeit erhält, sich auszudrücken. Das gilt besonders für dieses Abschluss-Stück, das eine furiose Reise durch alle bisher durchlaufene Stile und Formen darstellt. Diese Zusammenfassung ist ein Aushängeschild für die Möglichkeiten, die in der Formation stecken. Durch ihre vielfältigen instrumentellen und stimmlichen Optionen ist ein Ende des Abenteuers noch lange nicht absehbar und lässt für die Zukunft noch einige Abstecher in unzugängliche Bereiche offen.
Das Levitation Orchestra bringt Schwung und Bewegung in die teils verkrustete Jazz-Landschaft. Die Musik deckt Bedürfnisse nach Anregung, Harmonie, Überraschung und handwerklich ausgefeilter Technik ab und kann somit jedem empfohlen werden, der sich anspruchsvoll unterhalten lassen will. Die Inspirationen aus der Vergangenheit sorgen im Zusammenspiel mit Musikformen wie HipHop oder modernem R&B für ein Gefühl des Aufbruchs und der Suche nach einer individuellen Handschrift, die sich dem strengen Diktat einer eindeutigen Stilzuordnung entzieht. Das Levitation Orchestra ist auf dem besten Wege, dieses Ziel zu erreichen.

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