Charles Mingus - Jazz In Detroit, Strata Concert Gallery, 46 Selden (Eingespielt 1973) (2018)

Dachbodenfund: Der Konzert-Radiomitschnitt von Charles Mingus von 1973 zeigt den Jazz-Innovator als Leiter eines oft explosiven, avantgardistischen Quintetts.
Manchmal gehört eine ganze Portion Entdeckergeist dazu, verloren geglaubte Aufnahmen wieder ans Tageslicht zu befördern: So hat es sich DJ Amir Abdullah zur Aufgabe gemacht, alle Jazz-Aufnahmen, die in dem kleinen Detroiter Club „Strata Concert Gallery“ stattfanden, wieder zugänglich zu machen. Der Club wurde vom Pianisten Kenn Cox und dem Trompeter Charles Moore gegründet. Als Auftrittsort hatte er jedoch keine lange Lebensdauer: Zunächst wurde das Etablissement 1970 eröffnet und dann schon wieder 1971 geschlossen. Ein zweiter Anlauf dauerte dann von 1972 bis 1974. Es fanden nur etwa 50 Personen in dem auch als Cafe, Kulturzentrum und Aufnahmestudio genutzten Raum Platz. Was ihn jedoch zu etwas ganz besonderem machte, war die Tatsache, dass es die Betreiber verstanden haben, wahre Größen der Jazz-Szene dort auftreten zu lassen. So waren unter anderem Herbie Hancock, Chick Corea, Keith Jarrett, Elvin Jones und McCoy Tyner zu Gast. Und eben auch Charles Mingus, der 1973 grade eine Europa-Tournee abgeschlossen hatte und vom 13.02. bis zum 18.02. allabendlich sowie zusätzlich am 12.03. Konzerte gab, die nur maximal sechs Dollar Eintritt pro Zuhörer kosteten. Charles Mingus war zu dieser Zeit schon eine lebende Legende. Sowohl als innovativer Bassist wie auch als kreativer Komponist, Arrangeur und Bandleader. In dieser Schaffens-Phase unterlegte er den Bebop mit Avantgarde-Jazz, was zu einem explosiven Gemisch führte. Es klangen aber auch Blues, spiritueller Gospel, etwas Latin, swingender New Orleans-Jazz und Tupfer von moderner Klassik an.
Charles wurde am 22. April 1922 in Nogales, Arizona als drittes Kind des Unteroffiziers Charles Sr. und seiner Frau Harriet geboren, die kurz nach seiner Geburt starb. Die Familie zog nach Watts, einem Vorort von Los Angeles um und die Kinder wurden dort von ihrer Stiefmutter Mamie erzogen. Durch sie machte Mingus jr. als Kind nicht nur mit klassischer Musik Bekanntschaft, sondern kam durch die Kirchgänge auch mit Gospel in Berührung. Die Initialzündung, sich für Jazz als Grundlage seiner musikalischen Aktivitäten zu entscheiden, entstand schon als Achtjähriger, als Charles im Radio Duke Ellingtons „East St. Louis Toodle-Oo“ hörte. Ein Titel, den übrigens auch Steely Dan für ihr Album „Pretzel Logic“ (1974) coverten. Schon in der Grundschule lernte der musikinteressierte Junge Posaune und Cello spielen. Erst als Teenager entdeckte er den Bass für sich, dessen Handhabung er später studierte. In den folgenden Jahren zeigte sich außerdem noch sein Talent als Pianist.
In den 1940er Jahren war er dann Mitglied in den Formationen von Louis Armstrong, Kid Ory und Lionel Hampton. 1951 siedelte er nach New York um und arbeitete mit Charlie Parker, Bud Powell sowie Miles Davis zusammen und begann auch Platten unter eigenem Namen zu veröffentlichen. Im Januar 1953 war der Bassist auch kurzzeitig bei seinem großen Idol Duke Ellington beschäftigt, der ihn aber wegen Streitereien innerhalb der Band entlassen musste. Mingus` cholerische Ausfälle bereiteten ihm auch weiterhin privat und geschäftlich Probleme. Der Künstler war als aufbrausender, wüster Typ bekannt, der seine Bandmitglieder durchaus ohne triftigen musikalischen Grund spontan feuerte oder sogar handgreiflich wurde. Da er als schwierig galt, bekam er gegen Ende der 1950er Jahre nur noch wenige Auftritte vermittelt, was ihn in psychische Probleme stürzte, die einen Aufenthalt in einer Klinik erforderlich machten. Trotzdem hatte er in dieser Zeit seine produktivste Phase. So nahm er im Zeitraum zwischen 1957 und 1959 insgesamt elf Alben auf und alleine 1960 nochmal sieben. Darunter wegweisende Aufnahmen wie „Mingus Ah Um“ und „Mingus Dynasty“ (beide von 1959).
Die 1960er Jahre begannen hoffnungsvoll mit der Organisation eines Gegenfestivals zum Newport Jazz Festival, mit dem Charles gegen zunehmende Kommerzialisierung protestieren wollte. Trotz steigender Plattenverkäufe verlief die Karriere aber ab 1962 rückläufig, da das ambitionierte Großprojekt „Epitaph“, welches er mit einem Tentett umsetzen wollte, aufgrund mangelnder Vorbereitung und seinem Jähzorn bei der Aufführung in der Town Hall im Chaos endete. Beim Monterey Jazz Festival 1964 wurde er dann wieder bejubelt, bevor er 1965 von der Polizei gezwungen wurde, seine Wohnung wegen Mietrückständen zu verlassen. Die Schulden stürzten den Künstler wieder in eine emotionale Ausnahmesituation, so dass er erst wieder 1969 in der Lage war, öffentlich aufzutreten.
In der ersten Hälfte der 1970er Jahre war Charles Mingus wieder in guter Form auf der Bühne zu erleben. 1973 hatte er für die Auftritte in der „Strata Concert Gallery“ mit Don Pullen (Piano) und Roy Brooks (Schlagzeug) zwei außergewöhnlich begabte Musiker in seiner Band, die durch die Bläser Joe Gardner (Trompete) und John Stubblefield (Tenorsaxophon) abgerundet wurde. Der dreistündige Auftritt am Eröffnungsabend wurde mitgeschnitten und über den gemeinnützigen Radiosender WDET FM übertragen. In den Spielpausen führte der Moderator Bud Spangler ein Interview mit Roy Brooks, das genauso in dem Box-Set vorhanden ist wie Backstage-Diskussionen zum Thema Jazz. Die Tonbänder des Mitschnitts gingen damals in den Besitz des Schlagzeugers Roy Brooks über. 2017 wurden sie von dessen Witwe Hermine, die sie auf dem Dachboden verwahrte, zur Veröffentlichung frei gegeben.
Die Auftritte fallen in eine politisch brisante Zeit, die für das Selbstverständnis der schwarzen Musik der USA wichtig war. Der friedliche Protest der Bürgerbewegung für die Rechte der Afro-Amerikaner war spätestens mit dem Mord an Martin Luther King zu Grabe getragen worden. Was blieb, war Hass, Frustration und Ernüchterung. Der Vietnam-Krieg fraß die Jugend und die Watergate-Affäre erschütterte den Glauben in die Anständigkeit der politisch Handelnden massiv. Der Widerstand gegen das Establishment radikalisierte sich und die Gesellschaft schlitterte in die erste Energiekrise. Schwarze Musiker wollten nicht mehr gefällige Paten der Top 40 sein, sondern drückten ihre Empfindungen und Forderungen in kritischen Werken aus. Für den Soul hatte dies Marvin Gaye bereits 1971 mit „What`s Going On“ vorgemacht und auch Curtis Mayfield versah seine Songs Anfang der 1970er Jahre mit politischen Kommentaren, rief aber auch zu einer optimistischen Zukunftssicht auf. Gil Scott Heron nahm 1973 seinen Protest-Meilenstein „Winter In America“ auf, in dem er zwischen Jazz und Soul die sozialen Ungerechtigkeiten in den USA anprangerte. Auch im Rock & Roll waren zornige junge Männer auf dem Vormarsch, der Mitte der 1970er Jahre zum Punk führte. Allen voran The Stooges um Iggy Pop, deren „Raw Power“ eine brutale Spur von Gewalt hinterließ. In dieses soziale und politische Spannungsfeld hinein fielen die Auftritte von Charles Mingus im gesellschaftlichen Brennpunkt Detroit. Auch Charles Mingus sah sich als unterprivilegierter, von Rassenhass bedrohter Bürger, der von den Weißen ausgebeutet wurde. Der Jazz dieser Zeit bildete gewissermaßen ein Sinnbild der sozialpolitischen Situation der afro-amerikanischen Bevölkerung ab.
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Den Anfang der Aufzeichnungen macht eine fünfundzwanzig Minuten lange Fassung von „Pithecanthropus Erectus“. Das Stück stammt ursprünglich vom gleichnamigen Album aus 1956 und hatte dort „nur“ eine Laufzeit von zehneinhalb Minuten. Charles passte die Arrangements damals an die Persönlichkeiten seiner Mitspieler an und schrieb die Partituren nicht mehr auf, sondern übermittelte seine Ideen durch Vorspielen. Er näherte sich teilweise den harmonischen Klangformen von Duke Ellington an, aber wo dieser hauptsächlich die Liebe in seinen Kompositionen sprechen ließ, gehört bei Mingus auch immer Wut zum Spektrum dazu. Bei den vorliegenden Live-Versionen spielt Don Pullen schnelle, aber trotzdem hoch präzise Tonfolgen. Freie Ausbrüche sind dabei immer möglich. Auf seinen späteren Solo-Platten entfernte sich der Ausnahmepianist dann auch mal vollständig von tonalen Gebilden. Schlagzeuger Roy Brooks macht die Trickkiste auf und lässt seine Trommeln manchmal wie leere Plastik-Eimer klingen. Trotz der wilden, manchmal atonal wirkenden Improvisationen bewahren sich die Arrangements stets einen swingenden oder groovenden Kern.
„The Man Who Never Sleeps“ wurde ursprünglich 1971 in Japan mit der Bigband Toshiyuki Miyama & His New Herd Orchestra aufgenommen. Der Titel swingt hier etwa fünf Minuten lang dynamisch in unterschiedlichen Tempi über eine Trompeten-Improvisation. Dann wechselt die leitende Funktion und das Piano übernimmt. Ab der neunten Minute wird das Zepter an das Saxophon abgegeben und nach der dreizehnten Minute steigt die Trompete wieder mit ein. Die Solo-Ausflüge spielen sich im verspielten Raum ab, das reicht von melodischen Schmeicheleien bis knapp unter die Grenze zum freien Spiel. Die Komposition „Peggy’s Blue Skylight“ stammt von 1958. Sie wurde Peggy Hitchcock (Gulf-Oil-Erbin und LSD-Testerin unter Timothy Leary), einer Freundin des Musikers, gewidmet. Peggy hatte nämlich vor, das Oberlicht ihrer Wohnung durch das Plastikschutzschild eines Kampfjets zu ersetzen, um den Himmel immer blau erscheinen zu lassen. Das wurde ihr aber von der Regierung untersagt. Intro und Outro dieser Tondichtung suchen verhalten nach Orientierung. Der im Verlauf verwendete Groove ist stabil und wird von Roy exakt gehalten wie von einem Metronom. Das gibt den Solisten (an Trompete, Piano, Saxophon und Schlagzeug) die Möglichkeit, sich zu orientieren und kreativ zu entfalten.
„Celia“ ist nach Charles` zweiter Ehefrau benannt. Die Komposition ist unter anderem auf den Alben „East Coasting“ von 1957 sowie „Mingus Mingus Mingus Mingus Mingus“ von 1963 zu finden. Auch in der Box ist der Titel zweimal vertreten. Wer nun aufgrund der Widmung eine glückselig, verliebt klingende Komposition erwartet, liegt allerdings falsch. Zwar beginnt die Nummer mit einem reizenden, wohlklingenden Quintett-Sound, der als Gruppenleistung einem Big-Band-Klang sehr nahe kommt, jedoch zerfasert dieses Modell schnell zu wilden Auseinandersetzungen, die aber immer wieder in friedliche Bahnen geleitet werden. Da liegt die Vermutung nahe, dass hier Szenen einer Ehe musikalisch abgebildet werden: Streit folgt auf Eintracht, Zweisamkeit auf Auseinandersetzungen, temperamentvolle Phasen auf Gleichmut und Ekstase auf Langeweile.
Der „C Jam Blues“ von Duke Ellington erfährt hier eine 26minütige Würdigung. Die eingängige Anfangssequenz wird sehr bald durch eine sich in den Mittelpunkt schiebende Selbstdarstellung der Instrumente abgelöst. Es gibt aber auch Passagen, wo das ausgewogene Ensemblespiel an Gewicht gewinnt. Dann scheint die Komposition richtig aufzublühen. Das Stück „Orange Was The Color Of Her Dress, Then Blue Silk“ wurde erstmalig 1963 als Piano-Solo-Version eingespielt. Die stimmigen Bläsersätze gehören bei dieser Fassung zu den Elementen, die aufhorchen lassen. Der Titel beginnt rhythmisch aktiv, es werden dann aber Einlagen des Saxophonisten zugelassen, die sich in bekannten Mustern erschöpfen. Die komplexe Komposition hätte mehr außergewöhnliche Ideen verdient gehabt. Ein glänzend aufgelegter Don Pullen und der Drummer Roy Brooks, der wohl zu den Besten seiner Zunft gehört, retten den Titel dann über die Zeit.
Das bisher unveröffentlichte „Dizzy Profile“ ist auch in zwei Varianten vertreten. Der romantische Charakter des Tracks wird über die gesamte Laufzeit aufrecht gehalten, auch wenn es herausgestellte Instrumenten-Aktivitäten gibt. Beide Ausprägungen weichen in diesem Punkt kaum voneinander ab. „Noddin’ Ya Head Blues“ nutzt Charles Mingus für ein Bass-Solo-Intro und eine Interaktion mit dem Pianisten Don Pullen. Das Blues-Thema wird von der gesamten Band aufgegriffen und größtenteils konventionell, ohne größere Free-Jazz-Ausbrüche über 26 Minuten bearbeitet. Durch das Betätigen einer singenden Säge kann sogar so etwas wie ein säuselnd-jaulender Gesang als Untermalung erzeugt werden.
Der Bass wird im Klangbild manchmal unterpräsentiert, das Blech kommt dagegen wesentlich auffälliger zur Geltung. Die Aufnahmen wurden behutsam von John Morales überarbeitet, der in den 1980er Jahren als M & M Mix z.B. Songs von Aretha Franklin, The Rolling Stones, Al Jarreau oder The Art Of Noise remixt hat. Das ursprüngliche, intime Club-Feeling blieb dabei erhalten und den Tönen wurde Raum und Transparenz verliehen. Es gibt zwar ein paar technisch bedingte Aussetzer und Rückkopplungen, die aber überhaupt nicht störend wirken, sondern die authentische Stimmung sogar noch unterstützen. Die Box hat eine Laufzeit von 250 Minuten, davon 204 Minuten Musik und 46 Minuten Interviews.
1973 war Mingus mal wieder auf dem aufsteigenden Ast, ein Jahr später füllte er sogar die Carnegie Hall und gab ein triumphales Konzert. Im November 1977 wurde dann bei ihm amyotrophe Lateralsklerose diagnostiziert. Diese Krankheit führte zu Muskelschwund und zwang den Künstler in den Rollstuhl. Für seine letzte Arbeit sang er im April 1978 seine Ideen ein, weil er nicht mehr Bass spielen konnte. Joni Mitchell verwertete diese Vorlagen für ihr Album „Mingus“, das im Juni 1979 erschien. Im Juni 1978 wurde Charles dann noch von Jimmy Carter im Weißen Haus empfangen. Danach suchte er in Mexiko Hilfe bei einer ganzheitlichen alternativen Behandlung. Hier erlag er am 5. Januar 1979 einem Herzschlag.
„Jazz in Detroit, Strata Concert Gallery, 46 Selden“ zeigt die Mingus-Truppe explosiv, energisch, kompliziert und vertrackt. Die Musik gibt sich selten zugängig, oft solistisch ausufernd und manchmal chaotisch. Das ist anstrengend zu hören, zeigt aber bemerkenswerte Einzelleistungen, von denen die von Don Pullen am Piano und Roy Brooks am Schlagzeug herausragen. Für eingefleischte Jazz-Fans dürfte das schön aufgemachte Box-Set (als 5 CD- oder 5 LP-Box oder Download mit dem Bonus Track „Pithecanthropus Erectus (Alternate Take)“) ein Glücksfall sein, weil kaum jemand mit der Entdeckung und Veröffentlichung dieser Musik rechnen konnte.

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