Lost & Found-Portrait: Van Der Graaf Generator.

Wahrscheinlich hat das jeder Musikfanatiker schon mal erlebt: man hört einen Sound, einen Song oder eine Stimme und ist wie elektrisiert. So erging es mir, als ich anno 1970 im Radio das erste mal „Killer“ von Van der Graaf Generator hörte. Diese Kombination von poetischen Momenten und kraftvollen Ausbrüchen, gepaart mit einer intelligenten Melodieführung, einer außergewöhnlichen Instrumentierung und einem hochemotionalen Gesang hatte ich bis dahin noch nicht gehört. 

Der Versuch, die Musik von Van der Graaf Generator anhand der herkömmlichen Pop/Rock-Schubladen zu beschreiben scheitert, da der Komponist Peter Hammill zu den Musikern gehört, die einen eigenen Stil „erfunden“ haben. Natürlich sind hier Einflüsse von Klassik, Neuer Musik, Jazz und Rock auszumachen. Aber die Art, wie diese fusioniert werden, ist einzigartig. Es ist keine leichte Kost, aber die Auseinandersetzung damit lohnt sich, da die Halbwertzeit des Abnutzungsgrades quasi bei unendlich liegt. Dazu muss man natürlich „infiziert“ sein. Hammills Musik polarisiert: entweder man liebt sie oder sie lässt einen kalt.     

Van Der Graaf Generator circa 1972 (With images) | Van der graaf ...  

von links nach rechts: Hugh Banton (Keyboards), David Jackson (Saxophon, Flöte), Peter Hammill (Gesang, Piano, Gitarre); Guy Evans (Schlagzeug, Percussion).

Die Band formierte sich 1967 in Manchester aus Kunststudenten. Der Bandname wurde von einem Hochleistungsgenerator, den der Physiker Robert Jemison van de Graaff erfunden hat, abgeleitet. Van der Graaf Generator veröffentlichte 1969 ihre Debut-LP „The Aerosol Grey Machine“, die noch unausgereift war. Hier wurde noch nicht deutlich, was später das Besondere dieser Band ausmachte und sie von der Masse der Art-Rock-Bands abhob: ihre Songs hatten mehr Substanz, uferten nicht in endlosen Egotrips einzelner Musiker aus und besaßen eine unbändige innere Energie.

Van Der Graaf Generator: Aerosol Grey Machine: 50th Anniversary ...

Die 2. LP von 1969 (The Least we can do is wave to each other) wurde schon mit dem Kern der Stammformation der “1. Besetzungs-Generation“ eingespielt: Mastermind  und Sänger Peter Hammill an Gitarre und Piano, Tastenvirtuose Hugh Banton an Orgel und Keyboards, Bassist „Mr. Stoiker“ Nic Potter, der flexible Schlagzeuger Guy Evans und an diversen Saxophonen und Flöten David Jackson. Die Band zeigt sich gereift und homogen. Titel wie „Darkness“, „Refugees“, „White Hammer“ oder „After the flood“ sind inhaltlich und musikalisch natürlich nicht für das beschauliche Sonntagsmorgen-Frühstück geeignet, sondern verlangen nach konzentriertem Zuhören. Die Grundstimmung ist drückend und die Themen kreisen um psychisches und physisches Leid.

 The Least We Can Do Is Wave. [Vinyl LP] - Van der Graaf Generator ...


Das, was den VdGG-Sound von jeher ausmachte, nämlich die dynamischen Tempowechsel innerhalb von einzelnen Songs, wurde auf dem 1970er Werk „H to He, who am the only one“ auf die Spitze getrieben. Neben Kompositionen mit Ausflügen in Free-Jazz-Nähe enthält es den oben genannten brachialen Mid-Tempo-Rocker „Killer“ (eine Parabel aus Sicht eines Haies über Gewalt, Außenseiter und Vereinsamung) und die Weltuntergangs-Ballade „House with no door“, die zu den Klassikern der Band gehören.

 Van Der Graaf Generator: H To He Who Am The Only One (CD) – jpc

„Pawn hearts“ (1971) markierte den Abschluss der „1. Generation“ von VdGG LP’s. Sie enthält nur 3 Kompositionen, wobei die Suite „A plague of lighthouse keepers“ mit über 23 Minuten Länge die ganze zweite LP-Seite einnimmt. Obwohl formal sehr frei gestaltet, sind die einzelnen Songpassagen fein aufeinander abgestimmt. Hammill moduliert seine Stimme, so dass man zunächst den Eindruck erhält, es mit mehreren Sängern zu tun zu haben. Seine Mitspieler umgarnen ihn dabei sanft oder brechen in wilde Akkorde aus, bis hin zum kontrollierten Chaos, immer abgestimmt auf die Songstruktur. Dieses Album wurde in Italien Nr. 1 der Charts und führte dort kurz zur VdGG-Mania. Unfasslich!! 

Pawn Hearts - Van der Graaf Generator: Amazon.de: Musik

1972 löste sich die Band formal auf, man traf sich aber weiterhin, um gemeinsam Musik zu machen. Von dieser Zeit zeugt die semi-offizielle Veröffentlichung „Time Vaults“, die hauptsächlich Übungsraumaufnahmen in mäßiger Ton- und grandioser musikalischer Qualität enthält. Eine weitere Steigerung in Form von mehr Komplexität in den Kompositionen und noch höherem Energielevel war spürbar.

Ganz abgesehen davon setzte Peter Hammill seine Solo-Karriere mit einigen zeitlosen Meisterwerken fort, bei denen immer ex-Van der Graafen als Begleiter beteiligt waren.

Die Band veröffentlichte inzwischen ohne Peter Hammill unter dem Namen „The Long Hello“ 1973 zunächst nur in Italien ein Instrumentalalbum mit folk-jazzigen Eigenkompositionen. Diese versprühen aber nur am Rande den Geist früherer Alben.

 The Long Hello | Discogs

Erst 1975 reformierte man das 2. mal (die sog. 2. Generation) in der Besetzung Hammill / Jackson / Banton / Evans und brachte die grandioseste Reunion-Platte aller Zeiten heraus: „Godbluff“.

Van der Graaf Generator — Godbluff (1975)

Allein der Name ist schon Provokation. Die Scheibe enthält vier lange Titel, die vor Dichte und Spannung nur so bersten. Beim Opener „Undercover Man“ hört man zunächst zarte Flöten-, Percussion- und Orgeltupfer mit Flüstergesang. Der Track steigert sich dann unter wuchtigen Orgelläufen zu mitreißenden Melodiebögen. Diese werden variiert, klingen aus und nahtlos beginnt „Scorched Earth“.  Und die Tour-de-Force wird fortgesetzt: auch dieser Titel beginnt verhalten, steigert sich dann aber zur Mitte in ein orgiastisches Duell von Orgel und Saxophon, bevor Peter Hammills majestätische, wandlungsfähige Stimme wieder die Kontrolle übernimmt. Zum Finale wird die Intensität noch mal angezogen, bevor das Stück mit einem kurzen Gitarrenfeedback ausklingt. Man rechnet nicht damit, dass das Energielevel weiter auf diesem Niveau gehalten werden kann. Weit gefehlt: bei „Arrow“ umspielen sich zunächst Saxophon, Orgel und Schlagzeug. Man vermutet den Beginn einer lockeren Jam-Session. Dann glättet die wohltemperierte Orgel die Wellen. Der Song wird neu aufgebaut. Vorsichtig fügen sich die Instrumente in den Gesamtsound ein, bis Hammills kraftvolle Stimme die sich anbahnende Idylle zerschneidet. Wieder steigert sich das Lied allmählich und findet seinen Höhepunkt in intelligenten Saxophon-Passagen von David Jackson (er spielt teilweise 2 Instrumente gleichzeitig oder verändert den Klang durch den Einsatz elektronischer Apparate). Den Abschluss bildet „The Sleepwalkers“. Hier bildet der instrumentale Mittelteil den Kern der Komposition. Hymnisch schrauben sich die Musiker kraftvoll in schwindelnde Höhen, bevor die Komposition in sich zusammenfällt. Mehr ist nicht drin, es ist keine Steigerung möglich. 

Das Nachfolgewerk „Still Life“ von 1976 ist kompositorisch auf dem hohen Level von „Godbluff“, zeigt aber unterschiedlich strukturierte Stücke und wirkt deshalb nicht so homogen.

Van Der Graaf Generator - Still Life (1976) : AlbumArtPorn

Hier wird der melodische Aspekt stärker betont. Herausragend ist dabei „Pilgrims“. Wenn Hammills lodernde Stimme von Jacksons Saxophonsolo abgelöst wird, spürt man die unglaubliche Musikalität und das blinde Verständnis der Musiker untereinander. Auch die anderen Songs sind vorzüglich und man fragt sich, wie Hammill es gelungen ist, in so kurzer Zeit zwei Meisterwerke fertigzustellen. 

Damit nicht genug: in 1976 erschien auch noch „World Record“. Wieder wurde das Klangspektrum variiert, ohne die typischen VdGG-Elemente zu verleugnen. Allerdings geschah dies nicht ganz ohne Spannungen. Die Bandmitglieder, allen voran Hugh Banton, forderten größeren Einfluss auf die Kompositionen. Hammill wollte den Zusammenhalt nicht gefährden und akzeptierte.


So hat dieses Album einen – man mag es kaum glauben – gehörigen Reggae-Einfluss, der sich besonders bei „A place to survive“ zeigt. Und noch überraschender: das Experiment ist geglückt. Im 20minütigen „Meurglys III, the songwriter`s guild” gibt es gar eine Rückbesinnung an die psychedelischen „Pawn hearts“-Kompositionen, übernommen in den 1976er-Sound. Unterm Strich ist das Album sehr gelungen, wenn auch leicht schwächer als die beiden Vorgänger. 


Die auftretenden Spannungen in der Band konnten durch die eingegangenen Kompromisse nicht aufgefangen werden und so verließ Hugh Banton das Gefüge im Streit und David Jackson im Guten, da er seine Lehrerausbildung fortsetzen wollte und eine Familie gründete.

 Hammill war nun gezwungen, die Besetzung zu ändern: er revitalisierte Nic Potter (Bass) und rekrutierte Graham Smith (ex-String Driven Thing) an der Geige, der ihn auch schon bei seinen Solo-Alben unterstützt hatte. Außerdem strich er den „Generator“ aus dem Band-Namen. 1977, mitten in der Punkbewegung, kam in der neuen Besetzung „The Quiet Zone/The Pleasure Dome“ raus und überraschte mit frischen rockigen Songs mit knackiger Rhythmusabteilung. Den Jackson-Part der intelligenten Fills übernahm jetzt Smith mit seiner Geige.

 Van Der Graaf Generator: The Quiet Zone / The Pleasure Dome (CD) – jpc

Van der Graaf / Peter Hammill galten zwar in Insiderkreisen aufgrund ihrer Unbeugsamkeit und Power als Gallionsfiguren der englischen Punkbewegung, verkauften aber zuwenig Platten, um den eingeschlagenen Weg auch wirtschaftlich konsequent weiterzugehen zu können. Hammill wollte die Besetzung um den Cellisten Charles Dickie erweitern, überwarf sich aber im Kampf um Finanzierungen von Veröffentlichungen und Tourneen mit seiner Plattenfirma „Charisma“. Zermürbt legte er das Thema „Van der Graaf“ zu den Akten. 

Als Abschiedsgeschenk an die Fans erschien 1978 noch das Live-Doppelalbum „Vital“ (wieder mit David Jackson und Charles Dickie), welches ein dröhnendes Wall-of-Sound-Monster ist. Gewöhnungsbedürftig, weil zähflüssig und brachial. Hat man sich aber einmal damit angefreundet, möchte man es nicht mehr missen. 

 Van Der Graaf Generator: Vital - Live (2 CDs) – jpc


1994 wurden noch VdGG-BBC-Sessions („Maida Vale“) veröffentlichtOn The Road Again: Van Der Graaf Generator "Maida Vale: The BBC ...

und im Jahr 2000 erschien eine remasterte VdGG-Box mit 4 CD`s, die auch bisher offiziell unveröffentlichte Live-Aufnahmen enthielt. Auf DVD kann man die Band mit Aufnahmen aus 1975 (die gesamten „Godbluff“-Titel) und 1970 („Theme one“ und „A plague of lighthouse keepers“ von „Pawn hearts“) bewundern („Godbluff Live 1975“ wurde 2003 herausgebracht).

Peter Hammill führt seine Solo-Karriere bis heute fort (insgesamt sind weit über 30 CD`s unter seinem Namen herausgebracht worden). Es haben ihn dabei immer wieder Van der Graaf Generator – Mitglieder begleitet. Zu gemeinsamen Auftritten in VdGG-Besetzung kam es aber bis 2005 nur 2mal anlässlich von Peter Hammill-Konzerten. 

Für das erste Quartal 2005 war eine neue VdGG-Doppel-CD in der Besetzung Hammill / Jackson / Banton / Evans angekündigt, die unter dem Titel "Present" erschien:

Present - Van der Graaf Generator: Amazon.de: Musik

und am 06. Mai 2005 fand in der Royal Festival Hall in London ein Reunion-Konzert statt, dass 2007 als "Real Time" auf den Markt kam:


Die Band ging danach wieder auf Tournee und brachte bis heute noch vier Studioplatten:

2008 – Trisector
2011 – A Grounding in Numbers
2012 – Alt
2016 – Do Not Disturb

und vier Live-Aufnahmen

2009 – Live at the Paradiso (Aufnahmen von 2007)
2012 – Recorded Live in Concert at Metropolis Studios, London (Aufnahmen von 2010, 2CD + DVD)
2015 – Merlin Atmos (Aufnahmen der Europatour von 2013)
2015 – After the Flood - at the BBC 1968-1977

heraus.


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