Miles Davis - Rubberband (2019)

Hinter „Rubberband“ von Miles Davis verbirgt sich die Bergung von Archivaufnahmen unter zweifelhaften Bedingungen.
Zweifelsohne ist der Trompeter Miles Davis ein Gigant des Jazz. Sein „Kind Of Blue“ von 1959 wird in den meisten Bestenlisten als einflussreichstes Jazz-Album aller Zeiten angesehen und er hat seit den 1940er bis zu den 1990er Jahren die meisten Strömungen im Jazz mitbestimmt oder sogar kreiert. Allerdings ist sein Output aus den 1980er Jahren nicht unumstritten. Damals wendete er sich Pop-, Funk- und Smooth-Jazz-Tendenzen zu, die ihn nicht unbedingt als Innovator auszeichneten: Auf „Under Arrest“ von 1985 gibt es zum Beispiel eine Fassung von „Time After Time“ von Cindy Lauper. „Tutu“ aus 1986 enthält zudem eine wenig berauschende Version von „Perfect Way“ von Scritti Politti um Green Gartside, den Miles auch auf dessen Platte „Provision“ von 1988 auf zwei Stücken begleitete.
In diese Periode fällt auch die Produktion von „Rubberband“. 1985 hatte Miles sein langjähriges Stammlabel Columbia Records verlassen, weil er sich durch die Aufmerksamkeit, die dem Aufbau des Trompeters Wynton Marsalis zukam, beleidigt fühlte und war nach 30 Jahren zu Warner Brothers gewechselt. Zum Einstand plante er ein Album mit Unterstützung von renommierten Künstlern wie z. B. Al Jarreau und Chaka Khan. Die Aufnahmen dafür, die zwischen Oktober 1985 und Januar 1986 stattfanden, gerieten aber nicht zur Zufriedenheit von Tommy LiPuma, dem Chef der Jazz-Sparte bei Warner Brothers und landeten deshalb im Archiv. Stattdessen widmete man sich den Einspielungen von „Tutu“, die 1986 erschienen.
Als LiPuma 2017 starb, erinnerte man sich an die verschollenen Tapes und Vince Wilburn Jr., der Neffe und musikalischer Nachlassverwalter von Miles Davis, kam auf die Idee, die „Rubberband“-Tapes zu entstauben und sie so aufbereiten zu lassen, dass sie zeitgemäß erscheinen. Zu diesem Zweck wurden die damaligen Produzenten Zane Giles und Randy Hall aufgefordert, die Stücke so zu überarbeiten, dass sie Chancen haben, eine breite Hörerschaft für sich zu gewinnen. Anhand von neu hinzu gefügten elektronischen Drums, Keyboards, Gitarren und Bläsersätzen, sowie dem nachträglichen Einfügen von Gesangseinlagen und Sprach-Beiträgen von Miles bekamen sie dann ein entsprechend verändertes Gesicht. Es sind also nicht die Original-Einspielungen, die nun verbreitet werden, sondern lediglich Überarbeitungen der Vorlagen. Im letzten Jahr gab es zum Record Store Day schon mal eine 12inch-Vinyl-EP mit fünf Versionen des Stücks „Rubberband Of Life“, was die Hoffnung auf eine vollständige Ausgabe des verschollenen Werkes nährte. Jetzt sind elf Tracks unter dem Namen „Rubberband“ erschienen. Sie zeigen Miles Davis als Trompeter und Keyboarder, der durch die Nachbearbeitung gelegentlich zum Opfer seiner Produzenten geworden ist, weil manche Kompositionen auf Biegen und Brechen darauf ausgerichtet wurden, kommerziell erfolgreich zu sein. Das geht vereinzelt sogar soweit, dass sich der Trompeter wie ein Gast auf seinen eigenen, teils mit Effekten und Tonspuren vollgepfropften und dadurch überproduzierten Tracks anhört.
Das Titelstück gibt es in zwei Varianten: Der Auftakt „Rubberband Of Life“ ist ein cooler Soul-Funk-Trip mit HipHop-Verweisen und Unterstützung der stimmgewaltigen Ledisi. 
Am Ende des Albums wird „Rubberband“ als instrumentale, knackig rockende Jazz-Funk-Nummer dargeboten. „This Is It“ transportiert trockenen, harten Funk mit Jazz-Rock-Einfluss in der Art des jungen Prince. Einen kitschigen Easy Listening-Latin-Groove-Verschnitt mit Calypso-Einschlag bietet „Paradise“ 
und beim Smooth-Soul „So Emotional“ wirkt als Gastsängerin Lalah Hathaway - die Tochter der Soul-Legende Donny Hathaway - mit. Der agile Funk-Rock „Give It Up“ ist ein Highlight der Ausgrabung: Miles wird hier gut in Szene gesetzt und erhält genügend Freiheitsgrade, um sich durch lebendiges Spiel auszuzeichnen. 
Bei „Maze“ überwiegt das Jazz- gegenüber dem Funk-Rock-Verhältnis. Der Track verhält sich schwerfällig und verspielt zugleich und wird überhastet ausgeblendet, was den Schluss zulässt, dass er unvollendet war.
„Carnival Time“ ist im Grunde kantig, forsch und unbequem. Die glättende Neubearbeitung hat nicht dazu geführt, dass das Stück weichgekocht wurde. Der Mainstream-Soul-Funk „I Love What We Make Together“ erhält stimmliche Unterstützung vom Produzenten Randy Hall, der sich gesanglich als Al Jarreau-Ersatz versucht. Die Trompete von Miles Davis ist hier nur schmückendes Beiwerk, die Stimmen stehen im Vordergrund. „See I See“ leitet in gewisser Weise schon zum kühl groovenden Sound von „Tutu“ über, während das über neun Minuten lange „Echoes In Time/The Wrinkle“ holprig aus zwei völlig unterschiedlichen Teilen mit Hilfe einer sprachlichen Überleitung zusammengesetzt wurde. Es besteht aus einem einleitenden, nachdenklichen Trompeten-Solo, das von mahnenden Keyboards begleitet wird. Es folgt ein Part, dem die überdimensionalen Beats unsensibel übergestülpt wurden und so zusammen mit den im Hintergrund improvisierenden Instrumenten zu einem wirren, nicht zusammenpassen wollenden Brei führen.
„Rubberband“ ist ein zerrissenes Album. Zerrissen zwischen Kunst und Kommerz, zwischen Schmerz und Lust, Vergnügen und Leid. Es durchläuft Höhen und Tiefen. Herausgekommen ist ein Soul-Funk-Jazz-Pop-Produkt, das von Prince (der Funk-Rock-Anteil), von Cameo (der R&B-Anteil), von der New Yorker Band Material um Bill Laswell (der Punk-Funk-Anteil) und besagten Scritti Politti (der Pop-Anteil) beeinflusst wurde. Ebenso spielt die Fusion aus Jazz und Rock, die in den 1970er Jahren populär war, eine gewichtige Rolle. In dieser nachträglich konstruierten Form führt die Musik jedoch nicht zu neuen Erkenntnissen und vermittelt auch keinen schlüssigen Einblick in den Gedankengang von Miles Davis, weil man eben als Hörer nicht weiß, welche seiner Ideen überhaupt übrig geblieben sind. Das Trompetenspiel ist allerdings stets engagiert, zweckdienlich und inspiriert.
Das neue Konzept zeigt über weite Strecken an den Mainstream angepasste Kompositionen, die den Drang, musikalische Grenzen zu erweitern, vermissen lassen. Sinnvoll wäre gewesen, die originalen Stücke als Bonus mitzuliefern, so dass sich der geneigte Miles Davis-Fan selbst ein Bild davon machen kann, in welcher Weise die Ursprünge bearbeitet wurden und ob „Rubberband“ in der vorliegenden Form einen akzeptablen Mehrwert bietet. Wilburn Jr., Giles und Hall haben sich für eine recht plumpe, aufdringliche Interpretation entschieden, die den damaligen Zeitgeist und heutige ästhetische Mainstream-Gesichtspunkte zusammenbringen soll. Dass das Erbe von Miles Davis aber auch elegant und stilvoll übersetzt werden kann, hat nicht zuletzt Cassandra Wilson schon 1999 mit ihrer Hommage „Traveling Miles“ bewiesen.

Erstveröffentlichung dieser Rezension: Miles Davis - Rubberband

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