Björk - Fossora

Björk, die Erdverbundene. Bei "Fossora" war das Gefühl, die Füße in den Boden zu graben, ausschlaggebend für die Gestaltung der Ideensammlung für das ausgereift und lebendig klingende Album.

Björk. Die Unberechenbare. Die Unangepasste. Das Gesamtkunstwerk. "Fossora" ist ihr elftes Solo-Studio-Album (Soundtrack-Arbeiten nicht mitgezählt), das seinen Namen aus einer Wortschöpfung erhalten hat, die sich aus der weiblichen Form des lateinischen Wortes für "Bagger" ableitet. Wobei "Bagger" sowohl für etwas steht, das in der Erde gräbt, aber auch ein Mitglied einer Gruppe radikaler Andersdenkender beschreibt, die 1649 in England gegründet wurde und den Armen Land zur Verfügung stellen wollte. Erdung und Abkehr von Konventionen, beides findet sich in der Musik von Björk wieder. 
"Fossora" ist konzeptionell typisch für Björk, ist also herausfordernd, abenteuerlustig, teils verstörend, teils versöhnlich. Die Isländerin bezeichnet den aktuellen Sound als "biologischen Techno". Gesanglich ist sich die mutige Musikerin treu geblieben: Ob sie jetzt in einen dramatischen Sprechgesang verfällt oder harmonische Weisen vorträgt, ihr Timbre hat immer etwas ernsthaftes, als sei sie ständig auf der Hut, weil sie eine Bedrohung erwartet.

"Atopos" empfängt das Publikum mit hymnisch-sakralem Chor-Gesang und wird kurz danach von vorwitzigen elektronischen Trommeln des balinesischen Hardcore-Gamelan Musikers Kasimyn vom Duo Gabber Modus Operandi heimgesucht, die bockig Raum fordern und sich zum Ende hin staccatoartig auftürmen. Björk steuert verzweifelt-eindringlichen Solo-Gesang hinzu und das flankierende Klarinetten-Sextett Mumuri steht bei jedem Einsatz für Seriosität, egal ob es sanft oder kratzbürstig agiert, das dunkle Brummen der Bass-Klarinetten verbreitet stets Glaubwürdigkeit, Vertrauen und Behaglichkeit.
"Ovule" stolpert, ohne zu fallen, ist melancholisch, ohne depressiv zu sein und hat fette Beats, ohne tanzbar zu sein. Für Björk ist "Ovule" ihre Definition von Liebe, die sie für ein sehr zerbrechliches Gut hält, da sie von drei Faktoren beeinflusst wird: Dem Idealzustand von einer Beziehung, der ein Wunschbild ist, dann die Realität, wo sich die Liebe im Alltag bewähren muss und schließlich sind da noch die Schatten, die negativen Gefühle und die Zweifel, die an der Liebe nagen. "Ovule" macht alle diese Einflüsse durch, ist schwärmerisch, holprig, von dunklen Mächten befallen und lässt letztlich doch die Schönheit siegen.
Für "Mycelia" wurden Gesangsschnipsel von Björk gesampled, die jetzt per Tastendruck wieder freigegeben und verbunden werden. Bloße Mechanik trifft auf kreative Gestaltung, wobei das Stück vertonen soll, wie sich Pilze über dem Boden ausbreiten.
Auch "Sorrowful Soil" wird vom Gesang getragen, von selbstbewusstem Solo- und frommem Chor-Gesang. Nur ein paar Bass-Töne begleiten das spirituelle Vorhaben, das dem Andenken an Björks verstorbener Mutter gewidmet ist. Der Song entstand kurz vor ihrem Tod, war aber schon vom unausweichlichen Ende geprägt.
Zusätzlich gehört "Ancestress" zur Trauerbewältigung und ist als fiktive Grabrede zu verstehen. Björk singt teils im Duett mit einem Glockenspiel oder mit aufgewühlten Streichern und wird gesanglich noch von ihrem Sohn, dem Singer-Songwriter Sindri Eldon begleitet.
"Fagurt Er í Fjörðum" ist isländisch und heißt "Wie schön es in den Fjorden ist". Es ist ein Gedicht aus dem 18. Jahrhundert, das von der Fischerin Látra-Björg geschrieben wurde, die übersinnliche Kräfte gehabt haben soll. Sie konnte angeblich verlässlich das Wetter voraussagen und wusste, wann und wo Robben anlanden. Bei Björk klingt der Vortrag wie das Zitieren eines alten Volkslieds.
Voluminös dröhnende Töne, die an Schiffssirenen erinnern, stochern suchend und warnend im Nebel und eine einfache Beat-Box ist der Taktgeber bei "Victimhood". Björk singt dazu zunächst ruhig, beinahe ängstlich und bringt so einen Gegenpol zu dem angespannt pulsierenden Sound ein, der punktuell durch Streicher wattig aufgefüllt wird. Der Gesang bleibt weiter oft im Hintergrund, gibt aber zunehmend erregte Schwingungen ab, während in dieser Phase die Stimulanz der Instrumente zurückgefahren wird. Das Spiel mit dynamischen Abstufungen und Verdrehungen beherrscht Björk perfekt und trägt zur Attraktivität ihrer Schöpfungen bei.
Die Grundlagen für "Allow" entstanden während der Aufnahmen für "Utopia" 2017 in der Karibik. Das Lied klingt wahrscheinlich deshalb so freundlich-gelöst und exotisch und ist eine angenehme Bereicherung in dem Kontext der eher gedämpft-strengen Kompositionen von "Fossora".
Der Song "Fungal City" wurde in eine erzählerische Form der Klassik eingebunden, ist ein lautmalerisches Schauspiel und gleichzeitig ein experimentelles Art-Pop-Stück. Man könnte meinen, das ist "Peter und der Wolf" für Fortgeschrittene.
Das zweiminütige, instrumentale "Trölla-Gabba" bedeutet übersetzt so viel wie Troll-Scherz und wird erneut von Kasimyns monströsem Schlagwerk weichgeklopft und durcheinandergewirbelt. Überhaupt ist der Track ein einziges irrwitziges Soundgewitter von psychopathisch klingenden Ausmaßen. Sehr seltsam und verrückt, diese Tonanordnung.
Im Grunde genommen ist "Freefall" ein Liebeslied: "Ich lasse mich frei fallen, in deine Arme, in die Form der Liebe, die wir geschaffen haben, unsere emotionale Hängematte." Aber das Lied ist nicht romantisch vernebelt, sondern nennt sowohl die Tücken der Liebe wie auch die Voraussetzungen für eine glückliche Beziehung: "Wenn wir uns an das klammern, was wir einmal waren, wird es unsere Seele verbrennen. Wir werden verletzt werden, wenn es kein absolutes Vertrauen gibt." In Töne gegossen klingt das Ganze dann traurig-dramatisch oder forsch-erwartungsvoll, wird aber gänzlich ohne Zuckerguss serviert. 
Wenn das "Schulwerk" von Carl Orff auf Eberhard Schöners "Gam-Bang" und "Waterwheel" von Oregon trifft, dann entsteht daraus die Vorlage zum Stück "Fossora", das sich rhythmisch aktiv, fremdartig überdreht und ästhetisch gepflegt zeigt.
Bei "Her Mother’s House" geht es darum, welche Gefühlslagen das Verlassen der Kinder aus der elterlichen Wohnung mit sich bringen. Passenderweise singt Björks Tochter mit ihr hier im Duett. Das Lied ist wehmütig veranlagt, bringt aber auch jede Menge Herzlichkeit mit, so dass der barocke Anstrich nicht zu einer Steifheit führt.

Wer leicht verdauliche Kost sucht, ist bei "Fossora" falsch, wer sich allerdings für Sounds interessiert, die nicht alltäglich, sondern überraschend, fordernd und ungewöhnlich sind, der liegt hier richtig. Sinnbildlich schlägt Björks Musik Wurzeln wie ein Pilzgeflecht, denn es gibt weit entfernte, kaum bekannte Stilmittel, aber das gesamte Konstrukt ist dennoch logisch und emotional miteinander verwoben (wie die Kompositionen auf "Fossora"). Deshalb nennt "Fossora" auch ihr "Pilzalbum".

Björk polarisiert, das war schon immer so und ist mit dem neuesten Werk auch nicht anders. Björk bleibt unberechenbar, unangepasst und funktioniert als Gesamtkunstwerk, denn unter anderem spielen auch phantasievolle Verkleidungen und eine aufwändige Video-Ästhetik eine Rolle bei der Darstellung dieser Kunst.

Die Künstlerin ist unter den herrschenden Gesetzmäßigkeiten der Pop-Musik-Branche nicht zu fassen. Sie widersetzt sich marketingtechnisch sinnvollen Veröffentlichungszyklen, trotzt jeglichen Erwartungshaltungen und konstruiert Philosophien, die konsequent unabhängig, ausschließlich von ihren Empfindungen und nicht von populären Strömungen beeinflusst und abgeleitet sind. Und ganz selbstverständlich entsteht dabei eventuell exzentrisch wirkende Musik, die nicht auf Verkaufszahlen schielt, sondern Eigenständigkeit und Kreativität beweist. 

Diese Klänge wollen erarbeitet werden und wenn es mal gefunkt hat, dann macht sich schnell Begeisterung aufgrund des immensen Ideenreichtums und der professionellen und originellen Umsetzung breit. Respekt für die klare Haltung und für die inspirierenden Töne von "Fossora".

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