Lambchop - The Bible

Die Konzentration auf das Wesentliche und Freizügigkeit bei den Arrangements machen aus "The Bible" ein interessantes Lambchop-Album. 

Die Musik von Lambchop und vor allem die Stimme von Kurt Wagner transportierten schon immer ein sakrales, spirituelles, bedächtiges Feeling, ohne dabei im engeren Sinne religiös zu sein. "The Bible" ist also kein Bekenntnis zur christlichen Kirche, sondern als Manifest des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung zu sehen (auch wenn diese Aufzählung dem Christentum zuzurechnen ist). 

Kurt Wagner plagten vor der Realisierung des aktuellen Werkes Selbstzweifel und er wurde von gesundheitlichen Sorgen heimgesucht: Sein Vater erkrankte an Covid, Kurt erlitt einen Schlaganfall und ihm wurden beide Hüften erneuert. Aber alle Vorkommnisse hatten ein glückliches Ende. Wenn das kein Grund ist, dankbar zu sein und über das Dasein nachzudenken! Bibel ist ja eigentlich nur die Ableitung des Wortes Buch, also im eigentlichen Sinne keiner Religion zugeordnet, deshalb kann ja auch niemand daran Anstoß nehmen, wenn Lambchop unter dem Namen "The Bible" eine musikalische Darbietung - also quasi ein Hörbuch - veröffentlichen. Gelobt sei das freie Wort!
 
Der Opener "His Song Is Sung" beginnt als sinfonisch-cineastisches, atmosphärisch starkes, sehnsüchtiges, Tränen der Wehmut vergießendes Intro. Dann übernimmt Kurt Wagner dieses sensible Gebilde mit seiner melancholischen, zunächst natürlichen, dann verfremdeten Stimme, die nur von einem karg eingesetzten Piano begleitet wird. Diese intime Situation endet plötzlich mit einem explosionsartig auftauchenden Big-Band Sound, der von hymnischen Trompeten, schwirrenden Geigen, einem nervös pumpenden Bass und blubbernden Synthesizern geprägt ist. Diese Dynamik kann den bedächtigen Beinahe-Sprechgesang jedoch nicht aus dem Gleichgewicht bringen.
Was immer schon latent oder offensichtlich zu den Bestandteilen der Lambchop-Musik seit dem Debüt "I Hope You`re Sitting Down" aus 1994 gehörte, sind Einflüsse aus dem Soul oder Funk, die in dem Song "Little Black Boxes" heftig zu Tage treten. Der Track groovt offensiv und bekommt durch den Roboter-Gesang einen fremdartigen Touch, der von den lieblichen Background-Sängerinnen allerdings wieder aufgehoben wird. Der angriffslustige Disco-Sound ist ein willkommener Kontrast zu den introvertierten Liedern auf "The Bible". Und auch der verfremdete Gesang durch den Vocoder, der den Fans der ersten Stunde Bauchschmerzen bereitet, seit er erstmalig auf dem experimentellen FLOTUS 2016 eingesetzt und seitdem fester Bestandteil der Kompositionen wurde, fügt sich passend ein.
Im Gegensatz dazu klingen die innigen, zerbrechlich wirkenden, vom Piano gestützten Balladen "Daisy", 
"Every Child Begins The World Again" 
und "So There"
berauschend verzückt, intim anschmeichelnd und intellektuell verschachtelt. Manchmal hören sie sich auch nach verräuchertem Bar-Jazz oder nach einer unauffälligen Beschallung einer Hotel-Lounge an.

"Whatever, Mortal" profiliert sich als ideenreiches Art-Pop-Stück mit aufregenden Tempo- und Stilwechseln: Vertrackter und swingender Jazz, luftig-eleganter Latin-Sound, harmonisch-niveauvoller Soft-Rock und rockiger Mariachi-Sound kommen unter anderem als spannende Elixiere bei diesem höchst originellen Song in lockerer Abfolge vor.
Die sphärisch untermalte Erzählung "A Major Minor Drag" kommt ohne zwingende Melodie und ohne eingängigen Refrain aus. Dennoch folgt man dem Stück aufmerksam, so wie man auch einem Hörspiel folgt, von dem man zunächst nicht weiß, in welche Richtung es sich verzweigen wird.
Der "Police Dog Blues" ist kein Blues im klassischen Sinne, also nicht unbedingt der Musikrichtung verpflichtet. Die immer wieder auflodernde, kräftige Soul-Stimme von Madison Hallman erdet den Song, den eine karibische, weich-elastische Tonlage zwischendurch mit einer sanft-warmen Brise versorgt. Ansonsten schnüffelt der Track an jeder Ecke und nimmt Gerüche von knackigem Funk, neugierigem Jazz und breitschultrigem Rock auf. Ein stimulierend-prickelndes Erlebnis.
Das Calexico-Mitglied Paul Niehaus setzt mit seiner seufzenden Pedal-Steel-Guitar bei dem mild-geduldigen "Dylan At The Mousetrap" wehmütige, bitter-süße Akzente. Die anschmiegsamen Background-Stimmen verschmelzen dazu selbstlos mit den sonstigen seidig glitzernden Tönen und ergänzen den Wohlklang feingliedrig.
Für "That's Music" begibt sich Kurt Wagner in mystisch-vernebelte Gefilde. Die Instrumente gestalten eine verwunschene, romantisch-erwartungsvolle Klangfläche, die abgekoppelt von Kurts Sprechgesang zu funktionieren scheint. Der Kopf der Formation fungiert hier als Erzähler und trotz seiner losgelösten Rolle hält er die Zügel fest in der Hand.

Kurt Wagner ist bei Lambchop zwar der Chef im Ring, er agiert bei "The Bible" aber mehr als Arrangeur und spiritueller Direktor und weniger als ein alles bestimmender Frontmann. Sein Gesang ist wie immer prägnant und er nutzt die Vocoder-Experimente nur als exotische Note und nicht als Haupt-Stilmittel. Und das tut dem Gesamtbild gut.

Der Lambchop-Gründer ging gestärkt aus seinen Krisen hervor. Unterstützt von einer Heerschar an beteiligten Musikern, die vom Multiinstrumentalisten Andrew Broder und dem Produzenten Ryan Olsen angeführt werden, ist ein Sound gelungen, der sowohl Seriosität wie auch neugieriges Probieren beinhaltet und perfekt auf die bescheidene, sozialkompetente Persönlichkeit von Kurt Wagner zugeschnitten wurde. Mit "Whatever, Mortal" und "Police Dog Blues" liefert das Team überdies noch zwei der raffiniertesten und ergreifendsten Lambchop-Songs aller Zeiten ab, welche auch hinsichtlich des klugen Aufbaus und des unerschrockenen Einsatzes etlicher Stilmittel eine vielversprechende Weiterentwicklung darstellen. Es gibt also keinen Grund für Selbstzweifel mehr, die Zukunft von Lambchop hat grade erst begonnen.

Kommentare

  1. Danke für die positive Rezeption. Es ist nämlich wieder ein durchgängig gelungenes Werk des Herrn Wagner - trotz mancher Kritik, die zumeist die Erwartbarkeit seines nun schon länger gepflegten ruhigen Sounds bemängelt. In der Tat zeigt aber der 2. Songs eine andere musikalische Seite - von der so manche(r) vielleicht sogar mehr hören möchte. Lambchops Discoscheibe: Das wär´ doch was! (Aber die dann folgenden Kritiken wären wohl umso heftiger...)

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    1. Hallo Herr Hahne! Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für einen Kommentar genommen haben. Ja, Kurt Wagner hat auf "The Bible" neben seinem meditativen Country-Folk-Jazz auch zusätzliche Soundvorstellungen zu bieten, die die Platte beleben. Vielleicht gibt es ja tatsächlich bald eine "Discoscheibe" von ihm zu hören. Das wäre doch was! Wenn Sie Lambchop mögen, dann schätzen Sie eventuell auch die Tindersticks, oder? Schöne Grüße von Heino Walter

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