Everything But The Girl - Fuse

Comeback oder Abschiedswerk? Nach 24 Jahren gibt es endlich neue Songs von Everything But The Girl.

Damit konnte nach 24 Jahren Abstinenz wirklich niemand mehr rechnen! Nämlich, dass Tracey Thorn und Ben Watt nochmal gemeinsam Musik machen würden. Schließlich haben die beiden als Solo-Künstler bewiesen, dass sie auch unabhängig voneinander kulturell funktionieren können. Hätte es also wirklich nötig getan, den Everything But The Girl-Sound wieder aufleben zu lassen?

Tracey Thorn war inzwischen neben der Kindererziehung noch als Autorin von vier Büchern und als Journalistin tätig. Ben Watt hat sich nebenbei als Produzent und DJ mit eigenem Label (Buzzin` Fly) einen Namen gemacht, was sich bei einigen der neuen Stücke durch die Verwendung oder Einbeziehung eines strammen, unnachgiebigen elektronischen Beats bemerkbar macht.

So wie beim Opener "Nothing Left To Lose", wo pulsierende, hektische, mächtige, kantige TripHop-Takte den Track fest im Griff zu haben scheinen. Tracey Thorn vermag es jedoch, mit ihrem entschlossenen, Respekt fordernden Gesang - der allerdings nicht frei von zweifelnden Schwingungen ist - die Kraft der Bässe im Zaum zu halten. Pumpende und gegenläufig flirrend-zischende Töne zeigen einen Verlust an Sicherheit und Selbstbeherrschung deutlich an: "Ich brauche eine dickere Haut. Dieser Schmerz dringt immer wieder ein", lautet eine Momentaufnahme voller nüchterner, bedrückender Selbsterkenntnis. Menschliche Emotionen triumphieren aber am Ende dennoch über harsche Maschinen-Klänge.

"Run A Red Light" stimuliert und zelebriert die Energie, die in der Ruhe, Langsamkeit und Transparenz liegt. Der Song ist cool, clever, sphärisch und einschmeichelnd zugleich. Eine entspannte Stimme, die herausfordernde Akzente besitzt, sorgt für eine Form der Erregung, welche die Luft unterschwellig vibrieren lässt. Die zersetzende Wirkung der Zeit wird dadurch souverän und charmant außer Kraft gesetzt. "Ich habe diesen Song über den Typen am Ende der Nacht geschrieben, der davon träumt, dass sein großer Moment gleich um die Ecke ist", erklärte Ben Watt dem "New Musical Express" seine Gedanken bei der Entstehung des Liedes.

"Caution To The Wind" nimmt Anleihen bei der hypnotischen Minimal-Art-Musik von Steve Reich oder Philip Glass und steigert allmählich die Dynamik bis in zappelig-nervöse Techno-Bereiche hinein. Tracey Thorn lässt sich davon allerdings nicht aus der Ruhe bringen und singt trotz der aufkommenden Hektik romantisch-abgeklärt weiter.

Eine dunkel-unheimliche Dramatik liegt über den Keyboard-Tönen von "When You Mess Up", welche vom strengen Gesang sowohl bestätigt wie auch durchbrochen wird.

Der Electro-Pop "Time & Time Again" verbreitet überwiegend tröstend-aufmunternde Klänge, ohne dabei das Tempo vor Ausgelassenheit ausufern zu lassen. Manche künstlichen, zirpend-fiepende Synthesizer-Töne vermitteln hingegen mit ihrer unnatürlichen Erscheinung eine emotionale Distanz. Von diesen Kontrasten zwischen Wärme und Kühle profitiert dieser intelligent arrangierte Song in hohem Maße.

Mit "No One Knows We're Dancing" lassen sich jene Tänzer auf die Tanzfläche locken, die nicht verzückt ausflippen, sondern sich von einem Dream-Dance-Pop mit Rausch-Faktor angenehm aufgehoben durch die Nacht tragen lassen wollen.

Der Verlust von geliebten Menschen ist ein tiefer Einschnitt in die Seele. "Ich habe letzte Woche meinen Verstand verloren", verkündet Tracey Thorn bei "Lost" und jeder Mensch, der sich nach dem Tod von Bezugspersonen schon mal im freien Fall befunden hat, kann das gut nachvollziehen. Dieses Klagelied wurde betont einfach, mit wiederkehrenden, rücksichtsvollen Tönen ausgestattet, so dass es sich wie ein meditatives, besinnliches Gebet anhört.

"Gib mir etwas, an das ich mich für immer festhalten kann", lautet eine wichtige Aussage von "Forever". Dieser Wunsch findet sich in einem pseudo-optimistischen Song wieder, der von hüpfenden Fake-Reggae-Rhythmen und aufmunterndem Händeklatschen angestachelt wird, aber dennoch eine gedankenvolle Grundstimmung mitbringt.

Das rätselhaft verschlossene "Interior Space" ist nicht nur ein schwermütiger, sondern auch ein intensiver, aber auch der kürzeste Track auf "Fuse". Er sorgt für Frost auf den Noten, lässt teilweise das Blut in den Adern gefrieren und erzwingt eine ergriffene Demut.

Auch wenn "Karaoke" grundsätzlich einen traurigen Eindruck hinterlässt, so geht dennoch eine gewisse gelöste Stimmung von dieser Ballade aus. Das ist einer der besonderen kompositorischen Kniffe von Thorn & Watt, die aus ihren Songs kleine raffinierte Meisterwerke der zurückhaltenden, aber dennoch aufwühlenden Art machen. Sie nutzen das Wissen, dass sich Gegensätze anziehen und verstehen es, diese Kenntnis unauffällig so zu verwenden, dass den Liedern gefühlvolle Tiefe oder prickelnde Lebendigkeit und damit zeitlose Attraktivität mitgegeben wird.

"Fuse" ist eine schöne, überaus gelungene Überraschung geworden. Das Werk zeigt erneut, dass eine Kombination aus Melancholie und Rhythmus nicht widersprüchlich sein muss oder sogar unmöglich ist, sondern ganz im Gegenteil unverhoffte, interessante Blüten hervorbringen kann. Die akustischen Gegenüberstellungen von Yin und Yang oder von gegensätzlichen Gefühlslagen kommen dem wahren Leben sehr nahe und wirken aufgrund dessen authentisch. Deshalb passt auch der Titel "Fuse" so gut zum musikalischen Konzept.

Die Aufnahmen reihen sich jedenfalls qualitativ nahtlos in die Diskographie der bisher erschienenen zehn Everything But The Girl-Platten ein und hinterlassen einen bewährten Eindruck. So, als wäre die Zeit stehengeblieben. Die auch nach diversen Hördurchgängen immer noch belastbare Substanz und bewegende Ausstrahlung der Stücke von "Fuse" lassen auf eine Fortsetzung hoffen. Aber dazu müssen nicht nur die Sterne günstig stehen, sondern auch die Familienverhältnisse im Hause Thorn & Watt eine Wiederholung zulassen. Und das hat ja zuletzt ganze 24 Jahre gedauert.

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