Lucy Kruger & The Lost Boys - Heaving

Wenn dunkle Kräfte nach der Seele greifen, dann gibt "Heaving" Hilfe zur Selbsthilfe.

"Heaving" klingt nach Subkultur, nach Angst, Sex, Gewalt, Verzweiflung und zum Glück außerdem nach Versöhnung. "Heaving" ist das fünfte Album von Lucy Kruger, die mit ihren Solo-Arbeiten unter dem Zusatz The Lost Boys und mit ihrem Duo-Projekt Medicine Boy fest in der Berliner Underground-Pop-Szene verwurzelt ist. Im Januar war sie noch als eine intensive Gesangspartnerin auf "Shifting" des Frank Pop Ensemble zu hören, nun stellt die in Südafrika geborene Künstlerin zehn neue Lieder vor, die besonders gut im Schutz der Nacht gedeihen.
Credit: Lena Nehrinckx

Da ist Musik, die vom dunklen Ende der Straße herüberschallt, dort wo es unheimlich ist, wo Schmerz und Hoffnungslosigkeit zuhause sind. Jeder Song auf "Heaving" bringt eine andere abseitig-unheimliche Stimmung hervor, so dass die Hitze der Nacht in vielen Grautönen schimmern kann. Gleichwohl geht die Aussicht auf lichte Momente nie gänzlich verloren. "Es gibt den Tod und es gibt die Morgendämmerung", heißt es demzufolge zwangsläufig im Stück "Heaving".

Der Industrial-Pop von "Auditorium" verbindet mechanische Härte, manipulativen Sprech-Gesang, wortlose Stimm-Laute zwischen Lust und Irrsinn sowie melodische, treuherzige Unschuld miteinander. Dagegen demonstrieren die peitschenden Rhythmen beim Song "Heaving" eine stoische Unnachgiebigkeit. Zudem zerreißen zerrende E-Gitarren-Töne die Luft und Lucy singt als Dekoration dazu mit verführerischem Tonfall wie auch verschämt-unschuldig. Dadurch tun sich subtile, kontroverse Abgründe auf.
"Howl" bewegt sich an der Schwelle zum Wahnsinn: Lucy schreit ihre Verzweiflung und Wut heraus und gibt sich im nächsten Moment wieder kühl und beherrscht. Der Gesang wird zum unberechenbaren, scharfkantigen Instrument und klingt entweder verzerrt oder klar strukturiert - je nach Lust und Laune. Unsicherheit herrscht auch textlich vor: "Ich bin unschlüssig. Bei allem, was ich getan habe. Und allem, was ich je gesagt habe." 
Rausch oder Traum? Der fein gesponnene, sensible Hippie-Folk von "StereoScope" hinterlässt einen weltabgewandten Eindruck: In Trance gefallene oder lasziv gehauchte Stimmen vernebeln in Verbindung mit einer psychedelisch-filigranen Instrumentierung die Sinne.
Mit "Burning Building" geht es ab in die Alternative-Rock-Disco. Dahin, wo The Sisters Of Mercy, Siouxsie & The Banshees, The Cure oder Sonic Youth zuhause sind.
Die geheimnisumwitterte, eindringliche, am schnörkellos-sparsamen Underground-Folk von The Velvet Underground orientierte Ballade "Feedback Hounds" punktet mit schmachtendem Gesang, der Liebreiz und Verführungskunst in sich vereint.

"Front Row" ist wie ein Vulkan, der bald auszubrechen droht: Zuerst kündigt sich die Eruption an, dann erhöht sich die Intensität. Das erweist sich aber als Fehlalarm. Langsam steigert sich die Energiedichte wieder, das führt jedoch auch nach mehreren Anläufen nicht zum Ausbruch. Eine verdächtige Spannung bleibt dennoch über den gesamten Ablauf hinweg mit hoher Intensität erhalten.

Knisternde Erotik erfüllt "Tender": Der Bass grummelt zunächst lässig-pumpend und die Gitarre spuckt im Hintergrund elektrische Ladungen aus. Dann wird das Tempo erhöht, der Bass-Puls schlägt bis zum Hals, die Gitarre knurrt wie ein hungriger Bär und die Percussion-Salven bringen das Liebes-Gebräu zum Sieden. Lucy bleibt bei aller Hingabe - die um sie herum herrscht - cool und dämpft so zum Ende hin die Leidenschaft. Ein sinnlicher O(h)rgasmus.

Auf wundersame Weise gelingt es bei "Heaven Sent", sägende und nach Glocken klingende E-Gitarren-Töne, himmlische Chor-Stimmen, ein trocken und gemächlich klopfendes Schlagzeug, geisterhafte Call & Response-Solo-Gesänge und Schunkel-Einschübe zu einem geisterhaften, aber stimmigen Chanson zusammenzufügen. Die verschwommen-unheimliche "Twin Peaks"-Atmosphäre lässt grüßen.

Ein sparsam-monotoner Schlagzeug-Trommel-Takt, eine leidende, leicht verzerrte Stimme und Space-Sounds machen aus "Undress" als Abschluss indes einen meditativen, trunkenen Sinnestaumel.

Die Sängerin und Multiinstrumentalistin Lucy Kruger betritt mit ihren Lost Boys - zu denen in wechselnden Besetzungen Liú Mottes (Gitarre, Bass, Piano), Jean-Louise Parker (Gesang, Viola), Martin Perret (Schlagzeug), Calvin Siderfin (Bass), Andreas Miranda (Bass), ihr Medicine Boy-Partner André Leo (Gitarre) und Gidon Carmel (Schlagzeug) gehören - düstere, teils verstörende Pfade. 

Die Musiker lassen verirrte Seelen vor dem geistigen Auge entstehen, die tanzend durch die Dunkelheit stolpern. Die Gruppe erschafft ihren eigenen psychedelischen Dschungel - so wie es 1981 The Cramps taten - nur mit anderen Mitteln. Der undurchdringliche Dschungel hält sie gefangen, bietet aber auch Schutz. Lucy Kruger erschafft eine Klangwelt, die die Untiefen der Seele erkundet, um ihnen als Ergebnis die Schrecken zu nehmen. Und zu diesem Zweck geht sie dahin, wo es wehtut. Daneben gibt es immer wieder Momente, die in Sicherheit wiegen, beschwichtigen oder sogar Harmonie heraufbeschwören. Was für ein verwirrend-stimulierender Emotions-Cocktail!

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Waiting For Louise - Rain Meditation

Jahresbestenliste 2023

Lesestoff: Pop steht Kopf