Pearl & The Oysters - Coast 2 Coast

"Coast 2 Coast" ist eine knallbunte Wundertüte aus dem psychedelischen Space-Age- und Jazz-Pop Märchenland.
Juliette Pearl Davis und Joachim Polack nennen sich Pearl &The Oysters. Sie hat die Liebe zur Musik zusammengebracht. Nicht nur künstlerisch, sondern auch privat. Beide schwärmen für den Jazz-Pop der 1970er- und den Space-Age-Pop der 1990er Jahre. Unüberhörbar ist außerdem auch eine Zuneigung zu Burt Bacharach, Brian Wilson (The Beach Boys) und dem Yellow Magic Orchestra um Haruomi Hosono und Ryūichi Sakamoto zu spüren.
Hinter dem Titel "Coast 2 Coast" steckt die Idee, den Zustand des Wandels anhand einer Momentaufnahme festzuhalten. Juliette Pearl Davis und Joachim Polack lernten sich auf der Hochschule in Paris kennen und zogen 2015 nach Gainesville in Florida. Ein neuerlicher Umzug, der im Januar 2020 von der Ostküste zur Westküste der USA nach Los Angeles in Kalifornien stattfand, prägt nun unter anderem die Kulisse ihres neuen, insgesamt vierten Albums. Aber die inhaltlichen Zusammenhänge gehen noch viel weiter, wie das Paar erläutert: "Die Platte erforscht die Idee des Reisens - sowohl körperlich als auch geistig, sowohl erlebt als auch phantasiert. Es geht gleichermaßen um Schlaflosigkeit und den Traumzustand, den Lauf der Zeit, die Trauer der paradiesischen Natur, aber auch das Wunder der Phonographie und des Radios". Federführend bei der Umsetzung dieser Zusammenhänge zu einer in sich stimmigen Klangpalette ist die prägende, leicht beschwingte, klare, hübsche, jugendliche Stimme von Juliette Pearl Davis, die charmant durch den Song-Reigen führt.

Mit dem kurzen "Intro (...on the Sea-Forest)" nehmen uns Pearl & The Oysters durch Field-Recordings mit in die Natur von Gainesville. Dort in Florida wurden noch etwa die Hälfte der Lieder für "Coast 2 Coast" produziert.
Und es geht "tierisch" weiter: Schon bei den ersten Takten von "Fireflies" wird klar, zu welchen aktuellen Formationen eine Geistesverwandtschaft besteht: The Mild High Club, Stereolab, Unknown Mortal Orchestra und The High Llamas stechen als Vergleiche bei diesem farbenfrohen, flirrenden, verzückten Sound heraus. Es ist also auch nicht verwunderlich, dass auf "Coast 2 Coast" als Gäste unter anderem Lætitia Sadier (Stereolab), Riley Geare (Unknown Mortal Orchestra) und Alexander Brettin vom Mild High Club anwesend sind.

Ein milder Groove, versponnene Effekte und unschuldig-romantischer Gesang machen "Konami" zu einem Genre-übergreifenden, handfesten, griffigen Easy Listening-Song mit Ohrwurm-Potential.
Manchmal kommt man einfach nicht an einem Steely Dan-Vergleich vorbei. So wie bei "Pacific Ave", das sich gekonnt an die eleganten Jazz-Grooves von "Peg" aus dem Album "Aja" und die Coolness von "Time Out Of Mind" von "Gaucho" anlehnt.
Das kurze Zwischenspiel "Timetron" ist dagegen eine offenkundige Hommage an die Computer-Spiel-Musik vom ersten Album des Yellow Magic Orchestra.
"Timetron" dient überdies als Einleitung für "Loading Screen", wo dessen Klänge abgeschwächt aufgegriffen und als dekorative Hintergrund-Geräusche sowie als Rhythmus-Gerüst eingesetzt werden. Es geht in dem Lied um Bildschirmsucht und Reizüberflutung. Hinsichtlich der Stimmung handelt es sich gewissermaßen um eine Ballade, was bei dem ganzen Zirpen, Klappern und Blubbern jedoch beinahe untergeht.
"Space Coast" zitiert unter anderem die wehmütigen, vollmundigen Klänge einiger Beach Boys-Klassiker wie "`Til I Die" von "Surf`s Up". Es werden auch vermeintlich aus Hawaii stammende Töne verwendet, was eine trügerisch-klischeehafte, satirisch anmutende Exotik aufkommen lässt.
Kristalline Harfenklänge leiten "Moon Canyon Park" malerisch ein, woraufhin danach Echo-Imitationen für Verwirrung und schmierige Keyboard-Klänge für ungläubiges Staunen sorgen. Solch eine absurd kitschige Kombination aus unschuldigen und idyllischen Tönen, die durch schöngeistigen Gesang stabil zusammengehalten werden, klingt wie der Soundtrack zu einer Neuverfilmung für "Alice im Wunderland". 
"D'Ya Hear Me!" ist die Variante einer Demo-Version des Brenda Ray-Titels. Sie wird hier jedoch langsamer gespielt und mit mehr Pop-Strahlkraft ausgestattet, als es die karge Vorlage bieten kann. Heraus kommt dabei ein taumelnder Folk-Song, der in seiner arglos-unbekümmerten Art zum Beispiel an die mühelos-luftigen Arrangements von Nouvelle Vague erinnert. 
Total entspannt, beinahe schon schläfrig leitet die Stimme von Juliette Pearl Davis den wattigen, tropischen Lounge-Pop-Jazz "Paraiso" ein, der nach einigen Weckrufen immer wieder in eine gemächliche Rolle zurückfällt.
Für "Read The Room" wird mit krachenden und schmirgelnden Gitarren-Akkorden eine weitere musikalische Pearl & The Oysters-Vorliebe integriert: Die Pixies. Lætitia Sadier steuert lieblichen Duett-Gesang bei, das Rhythmus-Gespann prescht voran und baut Druck auf, beim Synthesizer schlagen die Elektronen Blasen vor Vergnügen und in Erinnerung an Walter/Wendy Carlos ("Switched On Bach") werden populäre Klassik-Pop-Muster ulkig-albern verwurstet.
Ein verführerischer, lasziver Gesang befreit "Vicarious Voyage" vom künstlichen, abweisenden Electro-Pop-Verdacht, der sich zunächst aufdrängt. Darüber hinaus überwiegt im Grunde genommen ein spielerisch-zwangloser Klangzauber, der abermals an die Beach Boys und ihre Werke aus den 1970er-Jahren, wie "Sunflower" denken lässt.  
Beinahe zerstörerisch gehen Pearl & The Oysters mit "Joyful Science" um. Die verzerrte Vocoder-Stimme lässt jegliche Harmonie hinter sich, der Rhythmus setzt zum Ausbruch an, ohne diesen dann schließlich doch zu wagen und das Saxophon bläst selbstbewusst und löst sich von den üblichen, einmütig-gleichgesinnt agierenden Schwingungs-Mustern. Deshalb wird aus dem bisherigen Harmonie-Bestreben letztlich ein Auflehnungs-Versuch. 

"Coast 2 Coast" beinhaltet viele Kompositions-Überraschungen, einige Anleihen bei der Pop-Geschichte und etliche verrückte, verwirrende und spaßige Klänge, die in dieser Ausprägung und Zusammensetzung ungewöhnlich sind und deshalb für ein hohes Maß an Hörvergnügen sorgen. Es steckt zudem jede Menge Liebe zum Detail in diesen Aufnahmen. Aber trotz der hohen Komplexität wirken die Lieder größtenteils flüssig und locker. Pearl & The Oysters lassen aufhorchen, wenn es darum geht, Pop-Musik zu erschaffen, die ästhetisch hochwertig erscheint. Dazu verarbeiten sie ein Füllhorn an ambitionierten Ideen, welche gewitzt und kenntnisreich umgesetzt werden.

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