North Mississippi Allstars - Still Shakin' (2025)
Jim Dickinson ist eine Legende. Als Musiker und Produzent war er für etliche besondere, nachhaltig einschneidende Momente in der Pop-Geschichte verantwortlich: Er spielte auf wegweisenden Alben von Künstlern wie Ry Cooder (u.a. "Into The Purple Valley", 1971 oder "Boomer`s Story", 1972), The Rolling Stones ("Sticky Fingers", 1971) oder Aretha Franklin ("Spirit In The Dark", 1970) Keyboards und sorgte mit seinem herausstechend geerdetem Produktionsstil bei zum Beispiel "Third" (1978) von Big Star, "Pleased To Meet Me" (1987) von The Replacements oder "The Killer Inside Me" (1987) von Green On Red für verblüffende Gänsehautmomente.
Außerdem setzte er mit der Session-Band Dixie Flyers Maßstäbe hinsichtlich der urig-gefühlvollen Begleitung von Künstlern wie Bettye LaVette, Delaney & Bonnie oder Jerry Jeff Walker. Mit Mudboy & The Neutrons und als Mitglied der prominent besetzten Raisins In The Sun erschuf er aufsehenerregende Werke der alternativen Roots-Music. Nicht zu vergessen seine Solo-Platten, die er in großen Abständen seit den frühen 1970er Jahren veröffentlichte und die allesamt als unkonventionelle Sammlerobjekte gelten. James Luther "Jim" Dickinson starb 2009 im Alter von 67 Jahren. Er hinterlässt seine Söhne Cody und Luther, die 1996 die Jam-Band North Mississippi Allstars gründeten. Bei der erblichen "Vorbelastung" und dem ständigen Umgang mit einflussreichen Künstlern, die im Umfeld der Familie wohnten oder Kontakt zum Vater hatten, wäre es auch verwunderlich gewesen, wenn Cody (Schlagzeug, Gesang) & Luther (Gitarre, Keyboards, Gesang) nicht Musiker geworden wären.
Mit "Still Shakin`" bringen die Dickinsons am 06.06.2025 ihr zwölftes Album heraus, das sich an ihrem Erstlingswerk "Shake Hands With Shorty" aus 2000 orientiert. Aber lassen wir zum Zustandekommen von "Still Shakin`" doch jemanden zu Wort kommen, der die Details kennen muss, nämlich Luther Dickinson: ""Still Shakin’" ist eine Feier unseres lebensverändernden ersten Albums "Shake Hands With Shorty", das wir vor 25 Jahren veröffentlicht haben, und ein Liebesbrief der Wertschätzung an alle, die uns unterstützten und uns all die Jahre im Spiel hielten. [...] Anstatt uns auf das alte Material zu konzentrieren, haben wir uns entschieden, neue Musik im Geiste unseres Debüts aufzunehmen.
Mein Bruder Cody und ich gründeten die Allstars 1996 als loses Kollektiv von Musikern in North Mississippi. Wir wurden von unserem Vater Jim Dickinson sowie von unseren Nachbarn und musikalischen Ahnen inspiriert: R.L. Burnside, Junior Kimbrough, Otha Turner und Fred McDowell. [...] Unsere Alben waren schon immer mehr eine Momentaufnahme davon, wer wir sind, als ein Hinweis darauf, wohin wir gehen. Die Musiker im aktuellen Allstars-Lineup dienten als Motivation, "Still Shakin`" in der vorliegenden Form aufzunehmen. [...].
Im Laufe der Jahre haben wir gelernt, dass je härter wir im Studio arbeiten und je mehr Do-It-Yourself-Anteile eine Platte enthält, umso besser fühlt sie sich an und umso besser fängt sie das Gefühl ein, welches wir auf der Bühne erzeugen. Also nehmen wir gerne lange und locker auf und fangen schnell und schmerzlos Inspirationen und rohe Aufnahmen ein, dann polieren wir sie ein wenig und stellen sie fertig. Und wir lassen unsere aktuellen Experimente, Erkundungen, Obsessionen und Einflüsse natürlich in die Musik auf "Still Shakin'" einfließen. Wir steckten zum Beispiel akustische Instrumente in selbstgemachte Röhrenverstärker, die wir dann direkt mit dem Mischpult verbunden haben, was einige erstaunlich flauschige, funkige Gitarrentexturen schuf. [...]."
Die elf neuen Songs der "Allstars" decken ein weites Stil-Spektrum ab. Waren auf den Alben "Shake Hands With Shorty" und "Hernando" aus 2008 noch strammer Southern-Rock vorherrschend - der eine ernstzunehmende Konkurrenz zu ZZ Top darstellte - so gibt es aktuell keine eindeutig herausgestellten Vorlieben. Es zählt vielmehr eine ausschweifende Fusions-Sicht vor, bei der die Gäste ihre jeweiligen Talente ungefiltert einbringen dürfen.
Im Original stammt "Preachin’ Blues" vom Sagen umwitterten Folk-Blueser Robert Johnson aus dem Jahr 1936. Aus der puren, nur zur akustischen Gitarre vorgetragenen Fassung gestalten die Dickinson-Brüder und ihre Freunde eine spritzig-aufgekratzte Funk-Party-Nummer, die von der E-Gitarre von Joey Williams und der Pedal-Steel-Gitarre von Rayfield "Ray Ray" Holloman ekstatisch befeuert wird. Ab und zu verwendet Luther Dickinson hohe Stimmlagen. Das hört sich dann wie eine Hommage an Bob Hite, dem Sänger von Canned Heat, an.
Die Komposition "Stay All Night" beruht auf Elementen des Junior Kimbrough-Songs und der Tommy Duncan und Robert James "Bob" Wills-Komposition "Stay A Little Longer". Das Stück wagt sich in psychedelische Gefilde vor, wie sie zu Zeiten des Westcoast-Sounds der Endsechziger Jahre erzeugt wurden. Es verbreitet mithilfe des Junior-Kimbrough-Sohnes Robert und des Blind Boys Of Alabama-Gitarristen Joey Williamsan an den Gitarren, sowie Jojo Hermann an der Hammond-B3-Orgel auf beinahe telepathisch verbundene Weise rauschhafte Tonkaskaden.
Der Trance-Blues "My Mind Is Ramblin’" ist ein weiteres von David "Junior" Kimbrough verfasstes Lied, welches unter anderem auch im Repertoire von The Black Keys zu finden ist. Durch die Duett-Stimmen von Sharisse und Shontelle Norman erhält der Track zunächst eine Pop-Färbung, bevor er durch allerlei flirrende Keyboard- und Gitarrenarbeit in seltsam-sphärische Regionen abhebt.
"Pray For Peace" ist ein leidenschaftlicher Gospel-Rocker, der vom Gospel inspirierten Harmonie-Gesang und einmal mehr von der schweißtreibenden, elektrisch verstärkten Gitarre von Joey Williams angetrieben und veredelt wird. Die Botschaft des Liedes ist eindeutig: "Die Unschuld und Liebe auf den Gesichtern unserer Kinder lässt mich wissen, dass Ignoranz und Hass ausgelöscht werden."
Mit "K.C. Jones (Part II)" hat es eine besondere Bewandtnis: The Grateful Dead haben 1970 für ihr Country-Folk-Album "Workingman`s Dead" den Titel "Casey Jones" aufgenommen, der wiederum vom Blues-Musiker Walter “Furry” Lewis stammt. Zum Freundeskreis der North Mississippi Allstars gehört der Bassist Grahame Lesh. Er ist der Sohn des Bassisten Phil Lesh, einem Gründungsmitglied von The Grateful Dead, der im Oktober 2024 verstarb. Ihm ist "Still Shakin`" gewidmet. "K.C. Jones (Part II)" bewegt sich würdevoll und anerkennend im gleichen Fahrwasser wie die coole Grateful Dead-Version von "Casey Jones". Und auf dem Referenzwerk "Shake Hands With Shorty" gibt es ein ähnlich gelagertes Lied mit dem Titel "K.C. Jones (On The Road Again)" - deshalb gibt es bei dieser Komposition den Zusatz "Part II".
Der Song "Still Shakin'" ist ein ausgeklügeltes, von karibischer Leichtigkeit durchtränktes, rhythmisch sumpfig getaktetes Groove-Monster. Durch die seelenvoll-liebreizend agierenden Chor-Ladies bekommt das Stück eine lustvolle Komponente verliehen. Die Hip-Hop-Einlagen sorgen für überraschende Brüche, welche die Sängerinnen gerne und wohlwollend aufgreifen, um dem Track zu ästhetisch-verlockenden Höhenflügen zu verhelfen. Am Ende des Liedes wird ein beschwingt singendes E-Gitarren-Solo von Duwayne Burnside angedeutet, das leider unvollendet bleibt. Augenzwinkernd werden im Verlauf stets effektive Ohrwurmqualitäten hervorgerufen. Scharfsinnig und erregend!
Der dreckige Garagen-Blues "Poor Boy" wurde von dem Hypno-Blues-Mann R.L. Burnside, einem erklärten Helden der Dickinson-Brüder, im Jahr 1996 verfasst und sein Sohn Duwayne Burnside brilliert in dieser Funk-Fusion-Version erneut an der E-Gitarre. Die beteiligten Musiker wagen einen Mix aus deftigem Funk und Klänge, die die Sinne vernebeln. Sie werden hintereinander eingefügt, was reibungslos funktioniert und verheißungsvoll anzuhören ist.
Für "Don’t Let The Devil Ride" packt Joey Williams nicht nur seine Gitarre aus, sondern er hat den Titel auch arrangiert. Allerdings fungiert der Song lediglich als konventionelle, gemütliche Blues-Nummer, die zum Mitwippen anregt. Einen Innovationsanspruch darf man nicht erwarten.
Den akustischen Slide-Gitarren-Blues "Write Me A Few Lines" von Mississippi Fred McDowell aus 1964 gibt es in der North Mississippi Allstars-Fassung nur auf der CD-Ausgabe und als Download von "Still Shakin`" zu hören, nicht aber auf dem Vinyl. Der frisch interpretierte Song surft auf einer eleganten, mühelos swingenden Groove-Welle. Dadurch erinnert er vor allem an Little Feat oder an die Grateful Dead von "Shakedown Street" aus 1978.
Der traditionelle Folk-Blues "John Henry", der von Furry Lewis geschrieben wurde, erfährt auf "Still Shakin`" eine ehrfürchtige Auferstehung als akustischer Country-Folk. Dieser ist allerdings mit fast viereinhalb Minuten etwas zu lang geraten, sodass die Spannung im Verlauf der Darbietung allmählich nachlässt.
"John Henry" geht nahtlos in "Monomyth (Folk Hero’s Last Ride)" über. Die singend-weinende Gitarre trägt hawaiianische Züge. Das Umfeld spielt sich in einem vom Piano getragenen Minimal-Art-Rahmen ab und endet mit einer im Zaum gehaltenen E-Gitarren-Verzerrung. "Es war nicht geplant, aber eines Morgens wachte ich auf und erkannte, dass es der 15. Jahrestag des Todes unseres Vaters war. Das inspirierte mich, das Instrumental "Monomyth (Folk Hero’s Last Ride)" auf seinem "Baby-Flügel" aufzunehmen", erzählt Luther Dickinson über die Inspiration zu seinem Stück.
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