Steve Harley & Cockney Rebel - The Best Years Of Our Lives (50th Anniversary Edition) (1975 / 2025)

Eine umfangreiche Aufarbeitung des Steve Harley & Cockney Rebel-Klassikers.


Es lag etwas in der Luft, im Jahr 1975. Der Duft der Veränderung. Im Underground brodelte es. Aus New York kamen Nachrichten von einem neuen wilden, primitiven Rock & Roll, der seine Wurzeln unter anderem im Club CBGBs hatte. In London rechneten ehrwürdige Musik-Magazine wie der New Musical Express oder der Melody Maker mit den etablierten Rockstars ab und nannten sie abwertend BOFs (Boring Old Farts / Langweilige alte Fürze). In den Charts kam dieser Aufruhr noch nicht an, aber in Insiderkreisen kursierten schon die aktuellen, heißen, aufrührerischen Veröffentlichungen und ließen sowohl die Kritiker als auch die interessierten Musikliebhaberinnen und -liebhaber aufhorchen und staunen, was alles an Innovationen möglich war. Es schien tatsächlich so, als würden die besten Jahre des Lebens grade vor uns liegen.

Kurz vor dieser Umbruchs-Phase trat plötzlich Steve Harley in Erscheinung. Ein vermeintlicher Durchschnittstyp mit Schlaghose, der sich manchmal bei Konzerten eine Clownsnase aufsetzte und der aufgrund seines biederen oder drolligen Erscheinungsbildes gar nicht richtig einzuordnen war. Harley wurde als Stephen Malcolm Ronald Nice am 27. Februar 1951 in London geboren. Er verbrachte zwischen seinem dritten und sechzehnten Lebensjahr fast vier Jahre wegen einer schweren Form der Kinderlähmung im Krankenhaus. Trost fand er in den Texten von T.S. Eliott, D.H. Lawrence, John Steinbeck, Virginia Woolf und Ernest Hemingway, sowie in der Musik von Bob Dylan. Sie inspirierte ihn endgültig dazu, Gedichte zu schreiben und dann auch Geige und Gitarre spielen zu lernen. Seine musikalische Karriere begann 1971, wobei er durch Bars und Clubs tingelte, wobei es unter anderem zuTreffen mit John Martyn und Ralph McTell kam. 1972 gründete er dann Cockney Rebel und 1973 erschien das erste Album "The Human Menagerie", das den ersten, pompösen, glanzvoll-erhabenen Single-Hit "Sebastian" enthielt.

Musikalisch schien Steve durch seine Vorlieben und Erfahrungen für größere Vorhaben vorbereitet und geerdet zu sein. Bei seinen Aktivitäten fühlte er sich dem erwachsenen Pop verpflichtet, dennoch versuchte er sich von seinen Idolen abzugrenzen, zu denen neben Dylan noch Marc Bolan, David Bowie, The Kinks und The Beatles zählten. Humor und in Phasen ein durchaus spleenig-unverwechselbarer Gesang, mit skurriler Betonung und Dehnung von Wörtern gehörten unter anderem zu seiner Individualität dazu und sorgten für einen hohen Wiedererkennungswert.

1975 erschien mit "The Best Years Of Our Lives" das dritte Album von Cockney Rebel und das Erste, das in diesem Zusammenhang den Namen des Sängers Steve Harley voranstellte. Und noch etwas war neu: drei der bisherigen Cockney Rebel-Mitstreiter forderten mehr Anteile an den Kompositionen, was Harley ablehnte und als Konsequenz daraus für "The Best Years Of Our Lives" eine neue Band zusammenstellte. Diese bestand aus Jim Cregan (Gitarre, ex-Family), George Ford (Bass, ex-Medicine Head), Duncan McKay (Keyboards, ex-Baker Gurvitz Army) und Stuart Elliot am Schlagzeug, dem einzigen verbliebenen Cockney Rebel-Mitglied.

Das Album, das für diese Deluxe-Jubiläums-Ausgabe vom damaligen Produzenten Alan Parsons behutsam tontechnisch überarbeitet wurde, braucht ein wenig Zeit, um richtig in Gang zu kommen. Nach einer humorigen Einleitung folgt das dem "Diamond Dogs"-Song von David Bowie nachempfundene "Mad, Mad Moonlight". Harley nutzt die Aufmüpfigkeit des Glam-Rocks für sich, ohne vordergründig ein rebellischer Rocker zu sein. 
 
Mit "Mr. Raffles (Man It Was Mean)" erscheint dann das erste Ausrufezeichen des Albums. Das Lied handelt von einem skrupellosen Manipulator und Verbrecher, der nur den eigenen Vorteil sucht. Geschickt werden bei dieser Ballade Elemente der spanischen Folklore und des Reggae zu einem Pop-Song mit exotischer Prägung verbunden.

"It Wasn’t Me" ist ein weiterer heimlicher Favorit, der durch den verzweifelt-strapaziösen Gesang eine belastend-erschütternde Intensität erreicht. Man spürt fast körperlich die innere Zerreißprobe, in der sich der Erzähler befindet: Es ist der mehrschichtige Spagat zwischen Leugnung von Verantwortung für Verfehlungen, um die eigene Schuld herunterzuspielen und der Gewissheit, sich dadurch selbst zu betrügen. Der intim konstruierte Folk-Jazz gibt der Sozialstudie einen intellektuellen Anstrich. Die in Abständen eingefügten schroffen Rock-Akkorde fördern ein Aggressionspotenzial, das durch das lyrische Geigen-Solo partiell pulverisiert wird. Knisternde, manchmal ins Absurde abgleitende Spannung ist garantiert.

Der bizarre Text von "Panorama" steht im Gegensatz zu seinem etablierten musikalischen Ansatz, der aus gebräuchlichen Bestandteilen von Rhythm & Blues, Soul und Jazz besteht.

Mit "Make Me Smile (Come Up And See Me)" hat Steve Harley das abgeliefert, was man landläufig einen perfekten Pop-Song nennt. Hier stimmt eigentlich alles: Er verfügt über eine mitreißende Melodie, einen Killer-Refrain, überlegene Lässigkeit, sexy Background-Sängerinnen, einen attraktiven Groove, raffinierte Haken und Ösen, wirkungsvolle Stopps und einen charmanten Lead-Sänger, der mit allen Verlockungs-Wassern gewaschen ist. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Enttäuschung über eine zerbrochene Beziehung wird manchmal als Abrechnung mit seinen gefeuerten ex-Cockney-Rebel-Musikern gedeutet. Es kann sich aber auch "nur" um eine gescheiterte Liebesbeziehung handeln. Das Lied diente in den Folgejahren einige Male als Wiederveröffentlichung zur Ankurbelung beziehungsweise Neubelebung der Karriere von Steve Harley und jedes Mal enterte es erneut die Charts. Und auch heute verfehlt er seine belebend-hypnotische Wirkung nicht. Ein eindeutiger Evergreen!

In "Back To The Farm" wird der Prozess der Selbstfindung und seelischen Erneuerung, mit dem Ziel, ein Leben jenseits des Vereinnahmung zu führen, thematisiert. Harley hängt sich gesanglich voll rein, geht aus sich raus und versucht gar nicht erst, Charts-tauglich zu agieren. Das Stück könnte wegen seines verschachtelt-komplexen Aufbaus als Progressive-Rock durchgehen, es bedient aber auch Sequenzen der ausschweifenden Pop-Tragödie. Gehetzter Gesang, der unter Druck steht, eine quengelnde E-Gitarre, formelmäßig zustimmende Chorstimmen und ein käsig-schmieriger Synthesizer dominieren den Sound dieser cleveren, in Teilen panisch-angsterfüllt wirkenden Komposition.

Cockney Rebel können auch funky sein, was "49th Parallel" stimmig beweist. Der Song hört sich rhythmisch wie ein Zwitter aus "Superstition" von Stevie Wonder und "Resurrection Shuffle" von Ashton, Gardner & Dyke an. Er verfolgt grundsätzlich eine klare Linie, bricht melodisch aber auch gerne einmal aus, um auf unerwartete Wege zu verzweigen. Inhaltlich ist das Stück schwer zu deuten. Die Verse wirken, als seien sie spontan und assoziativ entstanden.

Für das Lied "The Best Years Of Our Lives" zieht Steve Harley noch einmal alle Register seines melodramatischen, erschütternden Gesangs-Stils und erschafft eine ausschweifend-bewegende Hymne, die die Jugend und das Erwachsen werden mit seinem Erkenntnisgewinn würdevoll feiert. Darin schwingt sowohl eine freudige Erwartungshaltung als auch Skepsis mit.

Die erste CD der Box zu Ehren des Erscheinens vor 50 Jahren endet mit der Soft-Rock-Single-B-Seite "Another Journey", dessen Mundharmonika-Solo eine direkte Hommage an Bob Dylan, dem großen Vorbild von Steve Harley, ist.

Die zweite CD trägt die Überschrift "Outtakes & Rarities" und enthält elf Beispiele von Probeaufnahmen oder Versionen, die es nicht auf das Album geschafft haben. Man hat hier die Chance, einen Eindruck vom Entstehungsprozess der Platte zu erhaschen. Wer sich allerdings nicht für die Entwicklung der Songs interessiert, für den dürften die ausgewählten Schnappschüsse womöglich verzichtbar sein, weil sich manche Stücke in einem "unfertigen" Zustand befinden.

Die Arbeitsweise, bei der Harley konzentriert Regieanweisungen gibt, um die gewünschte instrumentelle Dynamik zu erreichen, kann sehr gut bei "The Mad, Mad Moonlight (Rehearsal)" und "49th Parallel (Rehearsal)" nachvollzogen werden.


Von "Another Journey" und "The Best Years Of Our Lives" gibt es jeweils Roh-Versionen zur akustischen Gitarre, die die spätere Struktur schon scharf erscheinen lassen. 


Die dazugehörigen frühen Studio-Einspielungen mit voller Besetzung zeigen im Falle von "Another Journey" schon eine absolut vorzeigbare Aufnahme,
 
was auch für die alternative Interpretation von "It Wasn’t Me"
und den Rough-Mix von "Make Me Smile (Come Up And See Me)" gilt.

Die Bonus-DVD besteht im Wesentlichen aus einem Konzert im Londoner Hammersmith Odeon vom 14. April 1975. In Bild und Ton gibt es zwei Mitschnitte (6 Songs + Fan-Interview als "Between The Lines Documentary" und 4 Songs als "Star Rider"-Aufnahme). Der Sound ist in beiden Fällen gut, die Bildqualität ist höchstens mittelmäßig zu nennen. 14 Stücke des Konzertes werden außerdem noch als Audio-Dateien in sehr guter Ton-Qualität zur Verfügung gestellt. Die Fans feiern den Auftritt frenetisch und Harley setzt jede Menge Sympathie und Energie frei. Die Band zeigt sich famos eingespielt, kleinere Fehler fallen bei dem kraftvollen Einsatz und der unermüdlichen Leistungsfähigkeit kaum ins Gewicht. Die DVD wird durch zwei Videos von "Make Me Smile (Come Up And See Me)" vervollständigt. Einmal handelt es sich um das offizielle Promo-Filmchen und einmal um einen Auftritt bei "Top Of The Pops" vom 30. Januar 1975.

Pop-historisch kann das Werk folgendermaßen eingeordnet werden: Für manche Menschen war Steve Harley ein Bindeglied zwischen verloren geglaubter Pop-Qualität und dem Aufbruch zu neuen Ufern. Pub-, Glam- und Punk-Rock kündigten eine Reformierung des Rock & Roll an. Punk war zwar noch in den Kinderschuhen, aber eine Tendenz zur Rebellion zog schon am Horizont auf. Die Beatles hatten sich bereits 1970 getrennt und so schien es, dass die Entwicklung des Adult-Pop vorbei war. Sehnlichst wurden aber dessen melodische und verführerische Qualitäten vermisst. In diese Bresche sprang nun Steve Harley, der clever mit den Attributen Eingängigkeit und Pathos als clownesker Unruhestifter spielte.

Durch die personelle und konzeptionelle Neuausrichtung hat Steve Harley seine Wahrnehmung und sein Verständnis von reifer Pop-Musik noch einmal geschärft und mit "The Best Years Of Our Lives" ein fokussiertes und das wohl interessanteste Album seiner Karriere herausgebracht. Auch wenn bei den folgenden Werken und der sich anschließenden Solo-Karriere nicht alle Songs ins Schwarze treffen, so sind die sich über alle Veröffentlichungen erstreckenden besten Arbeiten von Steve Harley zeitlose Klassiker geworden. "The Best Years Of Our Lives" verdient mindestens eine zweite Chance, als originelles Pop-Werk wahrgenommen zu werden. Dieses schön aufgemachte Box-Set im Buch-Cover ist dafür der ideale Einstieg und eine angemessene Würdigung von Steve Harley, der 2024 leider an Krebs starb.

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