Pulp - More (2025)

Mehr Pop-Luxus, mehr Hyper-Sensibilität, mehr Reife, mehr Pulp.


Betrachten wir "More" doch einmal so, als wäre die Platte nicht von Pulp, einer der bedeutendsten Bands der Brit-Pop-Ära der 1990er Jahre, sondern von einer aktuellen Gruppe der alternativen Pop-Szene. Also so, als ginge es um ein frisches Erstlingswerk und nicht um ein Comeback nach 24 Jahren. Wie passen die elf neuen Pulp-Schöpfungen denn nun ins Zeitgeschehen und welche Qualität und Relevanz weisen sie auf?
Credit: Tom Jackson
 
Saftig, blumig, clever und empathisch-dramatisch zugleich tritt das Eröffnungs-Stück "Spike Island" in Erscheinung. Die Band baut in den kraftvoll konstruierten Track luftig-leichte Momente ein, bleibt rhythmisch straff und ist melodisch anspruchsvoll. Beim Refrain steigert sich Jarvis Cocker in leidenschaftlich leidende Bereiche hinein. Das lässt David Bowie im Jenseits vor Anerkennung mit der Zunge schnalzen. Denn es handelt sich bei "Spike Island" um einen Song, der in jeder Pop-Epoche groß rausgekommen wäre.

"Tina" schwingt sich in Gefilde hinauf, in denen Romantik und Theatralik keine Schimpfworte sind, sondern einen Ausdruck für ganz besonders auffällige Gefühlswallungen bilden. Geigen leiten als Fremdenführer durch den Song. Mal klingen sie großzügig-versonnen, mal würdevoll-zupackend. Der Gesang hört sich sanft und flehend an. Er entführt bis an die Grenzen der Selbstaufgabe. Wer erinnert sich noch an "Sebastian" von Steve Harley & Cockney Rebel? Dieses außergewöhnliche, gesanglich übersteigerte Niveau liegt auch hier vor. "Tina" handelt von einer unerfüllten Liebe, die aufgrund der Schüchternheit des Protagonisten nicht zustande kommen konnte. Dieser hat seine Angebetete minutiös studiert und seine Träume und Wünsche auf sie projiziert, ohne ihr jemals wirklich nahegekommen zu sein.

Es ist ein merkwürdiges Phänomen, dass wir uns mit dem wirklichen Alter oft nicht arrangieren können. Sind wir jung, möchten wir reif wirken, um anerkannt zu werden. Sind wir alt, tun wir alles, um jugendlichen Glanz auszustrahlen. Laut Jarvis vergisst man im fortgeschrittenen Alter aber, wie es ist, jung und unbeholfen zu sein. "Grown Ups" läuft mit einem unnachgiebigen Gleichmut ab. Man kann auch sagen, der Rhythmus hat die Sturheit für sich gepachtet. Durch harte Gitarren-Riffs wird zu allem Überfluss noch ein erbarmungsloser, militärischer Marsch-Takt heraufbeschworen, welcher für Strenge sorgt. Der flehentlich-impulsive Refrain wirkt dann wie eine Befreiung aus diesem übergriffigen Korsett. Die ausführliche, kompetent recherchierte Erzählung gemahnt an die sich durch ihre detailgenaue Beobachtungsgabe auszeichnende Komponierkunst von Ray Davies (The Kinks).

"Wenn die Liebe langsam erkaltet, vergeht sie irgendwann fast vollständig." Cocker spricht in diesem Fall von einem langsamen Tod, den die Liebe stirbt. Man kann diesen Zustand einfach ignorieren oder aus den Gewohnheiten ausbrechen und etwas Neues anstreben. Cocker macht aus der Sozialstudie "Slow Jam" eine Ballade mit Funk-Injektionen, wie sie auch David Sylvian ersonnen haben könnte. Zärtlichkeit und manipulative Überzeugungskraft fließen in die üppigen Arrangements ein und lassen das Lied andächtig-hypnotisch gedeihen.

Frank Sinatra, Nick Cave, Dennis Wilson und Scott Walker haben bei "Formers Market" ihre innovativen, weit- und tief blickenden Spuren hinterlassen. Trotz schlechter Voraussetzungen, denn das Stück benötigt nicht einmal eine durchgängig vereinnahmende Melodie, um aufzufallen. Es kann alleine aufgrund seiner dynamisch verschränkten Dramatik überzeugen. Selbst der relativ lange Spoken-Word-Teil passt als philosophisches Zwischenspiel ins unkonventionelle Geschehen. Lyrisch gibt es den Versuch, zu erklären, jemand fernab der Logik eine ungeheure Faszination auf einen anderen Menschen ausüben kann. Es ist die Macht der Gefühle, die so etwas bewerkstelligt: "Nichts als dieses Gefühl. Ganz unten an der Basis meiner Wirbelsäule. Das hat überhaupt nichts mit meinem Verstand zu tun."

Für "My Sex" gebärdet sich Jarvis Cocker wie ein von Testosteron gelenkter Jungspund und klingt dabei punktuell seltsamerweise wie ein Abziehbild eines aufdringlich-schmierigen Autoverkäufers. Die Schlüpfrigkeit bleibt dabei unter der Bettdecke, auch wenn erotische Geräusche offensiv dargestellt werden. Plumpe, frivole Darstellungen sind zum Glück nicht das Metier von Jarvis Cocker. "My Sex" ist kein freizügiges "Je t`aime...Moi non plus" (von Serge Gainsbourg & Jane Birkin), sondern eher ein theoretisches "Non-Stop Erotic Cabaret" (Soft Cell). "Mein Geschlecht ist weder hier noch dort. Ist weder er noch sie. Es ist eine außerkörperliche Erfahrung. Mein Geschlecht ergibt keinen Sinn."

Das Feuer des Flamencos lodert in "Got To Have Love". Der Track läuft auf einem hohen Energielevel ab und bewegt sich schnurstracks auf einen Siedepunkt zu, sodass die Atmosphäre zu bersten droht. Der Song lebt diesen Höhepunkt aus und kommt anschließend zur Ruhe. Parallel gibt es radikal schonungslose Aussagen: "Ohne Liebe machst du dich nur lächerlich. Ohne Liebe wichst du nur in jemand anderen."

Genau wie in "Slow Jam" geht es auch bei "Background Noise" um Liebe, die sich allmählich verflüchtigt: "Liebe wird zum Hintergrundgeräusch. Wie dieses Klingeln in meinen Ohren. Wie das Brummen eines Kühlschranks. Du merkst es erst, wenn es verschwindet." Das Hintergrundgeräusch dieses Liedes besteht aus einem hell singenden Ton, der an die Rückkopplung einer E-Gitarre erinnert. Das Stück ruht sich auf den Errungenschaften seiner "More"-Vorgänger aus, sammelt allerlei Pop-Zitate ein und beruht auf den Zutaten eines klassischen Pop-Songs: ein langgezogener Spannungsaufbau, zu Herzen gehender Gesang und ein Ohrwurm vermittelnder Refrain.

"Partial Eclipse" überzeugt durch einfühlsame, federleichte Melancholie, gepaart mit einem überlegenen Coolness-Faktor: "Das Outro soll sich anfühlen, als würde man den Planeten verlassen und in den Weltraum schweben." Bewusst oder unbewusst hat sich Jarvis Cocker gesanglich von "Life On Mars?" von David Bowie anregen lassen. Diese Auffassung entsteht, da er seine Stimme "partiell" in einen kurzen Ruhemodus sinken lässt, wie es auch Bowie gerne zur Steigerung des Interesses getan hat.

Das epische "Hymn Of The North" wurde ursprünglich für das Drama "Light Falls" von Simon Stephens verfasst. Cocker schrieb den Song, als sein Sohn etwa 16 Jahre alt war und ihm wurde auf einmal schlagartig klar, dass er bald sein Heim verlassen würde, was ihn erschrecken ließ. Womöglich taucht deshalb im Text die Zeile "Ich weiß, du musst gehen. Ich will nicht, dass du gehst" auf. Das Lied weckt noch einmal ganz große Gefühle: Einsamkeit, Sehnsucht, Zuversicht und liebevolles Verlangen. Wie in einer umfangreichen Biografie üblich, steckt das Stück voller Höhe- und Tief-Punkte. Es bildet also das ganz normale Leben in all seiner Vielfalt reichhaltig und stimmungsvoll ab.

Brian Eno hat EarthPercent, eine Klimastiftung der Musikindustrie ins Leben gerufen: "EarthPercent lädt Künstler und die Musikindustrie im Allgemeinen dazu ein, einen kleinen Prozentsatz ihrer Einnahmen zu spenden und so durch Organisationen, die sich wirksam mit der Klima- und Naturkrise befassen, Veränderungen herbeizuführen." Eno fragte Jarvis Cocker, ob er dieses Projekt nicht tatkräftig unterstützen könne und Cocker trug eine Power-Point-Präsentation mit dem Namen "Biophobie" bei, an dessen Ende er "A Sunset" singt. Die Musik stammt von Richard Hawley und der Chor setzt sich aus Mitgliedern der Familie von Brian Eno zusammen. Für "A Sunset" besinnt sich Jarvis auf einen organisch wachsenden Aufbau, der von folkig-pur bis beschwingt-lebhaft reicht.


"This Is Hardcore" (1998) und "We Love Life" (2001) von Pulp sowie die Arbeiten von Jarvis Cocker (vor allem "Room 29" (2017) mit Chilly Gonzales) zählen zu Sternstunden des britischen Art-Pop. Augenzwinkernd und mit einem feinfühligen Sinn für Opulenz und Pop-Intimität haben diese Platten ihre Qualitäten konservieren können - wie guter Wein wurden sie im Laufe der Zeit noch wichtiger und intensiver. Diese Prädikate sind entscheidend, denn "das Leben ist zu kurz, um schlechten Wein zu trinken". So stand es jedenfalls auf einem Kissen im Haus von Jarvis Cockers Mutter.

Mit ihrem nach der 2023er-Reunion nicht ganz aus heiterem Himmel gefallenen Veröffentlichungs-Comeback "More" beweisen Pulp wiederum, dass sie in der Lage sind, zeitlos interessante Musik zu produzieren. Wären sie eine Newcomer-Band, würde man sie für "More" frenetisch feiern. Ist "More" also ein Anwärter für die Platte des Jahres 2025? Durchaus möglich! Jedenfalls verdient es das Werk unbedingt, dass man positiv darauf aufmerksam macht. Was hiermit geschehen ist.

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