BALBINA - FRAGEN ÜBER FRAGEN (2017)

Eine schöne, anregende Überraschung ist FRAGEN ÜBER FRAGEN, das neue Gesamtkunstwerk von BALBINA.
Balbina beherrscht die hohe Kunst, komplexe Sachverhalte einfach darzustellen und diese musikalisch liebenswert und wirkungsvoll zu verpacken.
Balbina erklärt uns ihre Welt und informiert über selektive Wahrnehmungen. Klar, es bleiben einige Dinge offen, die sie beispielhaft im Lied „Fragen Über Fragen“ auflistet. Aber die in Warschau geborene und in Berlin aufgewachsene Künstlerin hat auch unumstößliche Erkenntnisse und prägende Beobachtungen gesammelt, an denen sie uns teilhaben lässt.
Sie verblüfft mit überraschenden, erstaunlich klar formulierten Begebenheiten, durch die sie teilweise einen Weg ums Gehirn rum findet, um auch mit Unannehmlichkeiten und Alltagsballast fertig zu werden. Balbina trägt ihre bildende Philosophie mit deutlicher, ausdrucksstarker und überzeugender Stimmlage vor. Die Musik trägt Züge der Ernsthaftigkeit von Randy Newman und Van Dyke Parks. Diese großflächigen, weitläufigen und monumentalen, Ehrfurcht erzeugenden Tonwände werden immer wieder von einfachen, auflockernden Rhythmuseinlagen durchzogen.
Balbina gibt Anschauungsunterricht, Dinge aus einer alternativen Perspektive zu betrachten, ohne dass sie dabei missionieren möchte. Ihre Kunst ist kurzweilig und erfüllt den Anspruch, zum Mitdenken zu animieren und zum Mitfühlen anzuregen. Bei „Unterm Strich“ geht es um den Umgang damit, unangepasst zu sein und in keine Norm zu passen. Ein aufrührerischer Rhythmus und deutliche, abgrenzende Worte sprechen eine unmissverständliche, selbstbewusste Sprache.
Ein Wortspiel mit dem Begriff „Der Dadaist“ und eine selektive Beobachtungsgabe, die Einzelheiten enthüllt, welche im Gleichklang des Alltags untergehen, sind der Inhalt dieses Stücks. Von Terminen und Aufgaben getrieben, wird bei „Der Haken“ das Dilemma beschrieben, das entsteht, wenn das Funktionieren im Leben zum Selbstzweck wird. Balbina besticht bei ihren intelligent-erhellenden Schilderungen durch bestechende Natürlichkeit. Ungebremster Zweckoptimismus begleitet „Der Gute Tag“, was schon beinahe wie eine Parodie wirkt. „Der Trübsaal“ ist der Gegenentwurf dazu: Es geht um Zuflucht in die Melancholie. Der Seele geht es „angenehm elend und ich wäre traurig, wenn das vergeht“, lässt Balbina verkünden und protokolliert damit einen erschreckenden Selbstschutzmechanismus. Einfach in den Tag hineinleben und sich dabei gut fühlen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, weil angeblich wichtige Dinge nicht erledigt werden. Diese Handlungsalternative wird bei „Das Sinnlos“ beschrieben.
Balbina ist nicht nur eine detailverliebte Beobachterin, sondern auch eine nüchterne Analytikerin, die einem Sachverhalt gerne bedingungslos auf den Grund geht. Die Wirklichkeit kann durch das Aufkleben von durchsichtigen Klebestreifen auf Brillengläser weichgezeichnet werden. So einfach können Wahrnehmungen und Empfindungen verändert werden. Das Ausbremsen von schädlichen Einflüssen und dadurch die Steuerung des Wohlbefindens durch bewusste Manipulation ist das Thema von „Das Milchglas“. Das ist keine Kalenderblatt-Philosophie, sondern eine Anleitung zum Quer- und Tief-Denken mit der Möglichkeit, unter Umständen an einem Erweckungserlebnis teilzuhaben.
„Der Scheitel“ ist ein Plädoyer für freigeistiges Handeln und Denken, das musikalisch lange Zeit durch optimistische, aber auch durch nachdenkliche Töne untermalt wird. Der Ausbruchsversuch aus dem gefühlten Mittelmaß wird für „Das Mittelmaß“ problematisiert. Ein reizloses Dasein wird als Stillstand empfunden. Dann doch lieber starke Ausschläge, egal ob positiv oder negativ? Unterdrückte Gefühle wollen raus gelassen werden. Ansonsten droht „Das Platzen“ und Balbina fragt sich, wer dann wohl die Reste aufsammelt. Schelmischer Humor spielt nämlich auch eine gewichtige Rolle in den Formulierungen. Balbina macht keine Lieder über die Liebe oder andere tiefe Gefühle. Diese Themen berühren sie zu sehr und „Die Regenwolke“ umschreibt ihre Reaktionen dazu.
Schlaflosigkeit kann genauso eine Qual sein wie Dauermüdigkeit. Den Zustand, dass Müdigkeit das Leben bestimmt, wird in „Der Schlafvertrag“ beleuchtet. Das weitverbreitete Gefühl, vom Glück verlassen zu sein und die ständige Suche nach Freude bestimmt die Betrachtung von „Das Glück“. Das Abkapseln von Menschen in Verbindung mit Verlustängsten und Zerstörungswut wird bei „Das Kaputtgehen“ in einen Zusammenhang gebracht. Luxuriöses Schwelgen in Form von Streicher-Teppichen des Sofia Symphonic Orchestra und melodisch-dramatische Piano-Figuren leiten „Stille“ ein. Der Rhythmus tänzelt leichtfüßig über die fabrizierten Weiten und Tiefen dahin. Der Text lässt einige Interpretationen zu und so endet dieses visionäre Album mit offenen Fragen.
Und so schließt sich auch ein Kreis: „Fragen Über Fragen“ gibt Denkanstöße, aber verbreitet keine allgemeingültigen Weisheiten. Das ist klug und beflügelnd zugleich. Inhalte und Musik werden gleichgewichtet umgesetzt. Balbina nutzt die Möglichkeiten, die Sprache zur Erreichung von Aufmerksamkeit bietet, um sie mit verbindenden und gegenläufigen Tönen zu verstärken. Die kreative Künstlerin erreicht dadurch ein Kommunikationslevel, dass Unterhaltung mit Bildung vereint. Das ist ein hoher Anspruch, der mühelos und dabei verdaulich und aussagekräftig erreicht wird. „Fragen Über Fragen“ ist deshalb ein Referenzwerk für geistreiche deutschsprachige Pop-Musik geworden!

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