Jerry Paper - Like A Baby (2018)

Vertreter der Zweideutigkeit: Jerry Paper spielt für "Like A Baby" Ernsthaftigkeit und Humor gegeneinander aus und schafft so eine neue Form von Easy Listening.

Der um 1990 herum in Los Angeles geborene Lucas Nathan scheint ein lustiger Bursche zu sein. 2009 fing er an, elektronische Musik zu produzieren, um angeblich seine Abneigung gegen das Genre loszuwerden. Lucas legte sich 2012 die zweite Identität Jerry Paper zu, um mehr über sich selbst heraus zu finden. Unter diesem Pseudonym ist er auch für seine ironischen, lustigen, augenzwinkernden Aussagen über musikalische Vorlieben bekannt: So behauptete er einst, als Teenager eine Phase gehabt zu haben, in der er nur Aufnahmen hören wollte, die zwischen 1966 und 1968 entstanden sind. Seine ersten musikalischen Gehversuche fanden allerdings im Noise- und Krautrock-, Free Jazz- und Psychedelic-Folk-Umfeld statt und wurden im Laufe der Zeit mehr und mehr durch Pop-Strukturen ergänzt. Wegweisende Künstler wie Todd Rundgren, Prefab Sprout und besonders Steely Dan spielten für diese Einflussnahme eine wichtige Rolle. Außerdem nennt der veränderungswillige Musiker noch klassischen Rhythm & Blues, Stereolab, brasilianische Avantgarde und elektronische Musik aus Japan als Bezugsgrößen. Das zeigt, wie unorthodox und offen seine musikalische Weltanschauung ausgeprägt ist.


Für „Like A Baby“ fokussiert Nathan seine umfassende Pop-historische Sicht weitgehend auf melodisch gestimmten, synthetischen Soul und Pop, den er mit Witz, Raffinesse und leicht bekömmlicher Schräglage aufbereitet. Nicht ohne dabei ironisch und etwas neben der Spur, aber dennoch sympathisch sowie solide zu agieren. Jerry Paper meint, er nähere sich mit dem Werk dem endlosen menschlichen Kreislauf aus Verlangen und Befriedigung. Aber in ihm toben Widersprüche. Diese Gegensätze manifestieren sich in der Darstellung der Musik, die sich populären Mechanismen bedient, ohne an vorherrschende Trends angepasst zu sein.
Paper ist einer dieser jungen verrückten Dauerkreativen, bei denen nie klar ist, welche ungewöhnliche Idee sie als nächste ausbrüten. So klingt „Your Cocoon“ wie ein mondäner Soul-Track, der manchmal durch leiernde, synthetische Geigen verfremdet wird. „Grey Area“ bietet übersteigerten, parodierten Smooth-Soul und „A Moment“ geht leichtfüßig und humorvoll mit Pop-Jazz um, der von Steely Dan abzustammen scheint.
Der Easy Listening-Sound von „Something`s Not Right“ besticht durch unbekümmerten Do-It-Yourself-Charme. Die Ballade wird windelweich und schmierig interpretiert. Aber auf eine Art, die so überzogen ist, dass sie schon wieder originell erscheint. Dazu erschallen noch kitschige Computer-Klänge, die diesen Spaß abrunden. „Did I Buy It?“ ist der einzige Track, der die dreieinhalb Minuten-Marke reißt. Er sorgt für putzige, schläfrige Unterhaltung mit Karibik-Flair. „Commercial Break“ und „My God“ besitzen halluzinogene Komponenten, die auf psychedelischen Sounds und Exotica-Klängen beruhen. Der Philly-Soul von „Baby“ wird von fiependen Tönen und einem satten, wummernden Rhythmus begleitet. Bei „Everything Borrowed“ und „Huge Laughs“ präsentiert sich Jerry als verführerischer Schnulzensänger und lässt die Keyboards manchmal wie schwingende Glocken oder tanzende Regentropfen klingen. „You“ und „More Bad News“ hören sich wie verdrehte Südsee-Varianten von „Pet Sounds“-Songs der Beach Boys an und „Losing The Game“ versöhnt das Singer-Songwriter-Genre auf galante Weise mit Synthie-Pop.
Technologische Kälte und menschliche Wärme finden hier zusammen, wobei versucht wird, die Grenzen der populären Musik neu zu definieren. Nicht als Teil eines intellektuellen Konzeptes, sondern als Ausdruck eines erfundenen Charakters, der sich nicht an Konventionen gebunden fühlt. Paper ist ein ungeschliffener Edelstein, der die Erwartungen an radiotaugliche Musik nur scheinbar erfüllt. Aber durch auffällige, leicht schräge, kitschige oder müde leiernde Instrumentierung wird für Verwirrung, Verwunderung und Aufmerksamkeit gesorgt. Die Kunst dabei ist, die Balance zwischen Eingängigkeit und Experiment zu halten, damit die Kompositionen weder banal, noch kopflastig rüber kommen. Eine Prise Humor gehört auf jeden Fall auch dazu, um sich diese Musik längere Zeit anzuhören. Es wird nämlich nicht immer deutlich, ob Abschnitte als Karikatur oder ernst gemeint sind. Werden den Songs aber vorurteilslos Raum und Zeit eingeräumt, dann tritt schnell der Unterhaltungswert der Lieder hervor.
Für den ultimativen Kick sollte Lucas Nathan noch offensiver Killer-Hooklines einbauen, damit sich die Groove-Wirkung noch intensiver und schneller aufbaut. So bleibt zumindest ein Album für Pop-Gourmets in Erinnerung, die das Außergewöhnliche suchen. Das klingt zuweilen so gediegen, als würden Mayer Hawthorne, Kevin Ayers und XTC gemeinsam Musik machen. Die Umsetzung dieser zwanglosen, neuen Form des Easy Listening ist zwar noch nicht voll ausgereift, aber sehr vielversprechend.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Waiting For Louise - Rain Meditation

Jahresbestenliste 2023

Lesestoff: Pop steht Kopf