Karwendel - Im Lichte der Zeit

Karwendel betrachten wesentliche Existenz-Fragen "Im Lichte der Zeit" und weisen ihnen dabei eine zuversichtliche Komponente zu. 

Da ist es! Das erste Volle-Länge-Werk des Hamburger Singer-Songwriters Sebastian Król, der unter dem Namen Karwendel zusammen mit einem illustren Quintett seine intim-lieblichen Gebilde eingespielt hat. Diese gleichgesinnten Kollegen sind: Max Braun, Bassist von BRTHR, der hier zusätzlich Klavier spielt und die Produktion betreut sowie Johann Polzer, seines Zeichens Schlagzeuger bei BRTHR, nebst Laila Nysten an Geige, Gesang und Klavier. Die erlesene Bläser-Sektion bilden Carsten Netz (Klarinette, Saxofon, Querflöte) und Linus Kleinlosen (Klarinette, Saxofon, Klavier). Also eine herrlich altmodische, rein akustische Instrumentierung, bei der sehr viel Wert auf besondere, feingeistige Details gelegt wird. Einen Vorgeschmack auf das, was uns hier erwartet, gab es schon im letzten Jahr mit der 5-Track-EP "Für den Moment". Wer dieses Kleinod verpasst hat, braucht sich nicht grämen, denn die Stücke machen die Hälfte des aktuellen Albums "Im Lichte der Zeit" aus. 

Sebastian Król präsentiert sich mit Karwendel als moderner Minnesänger, der sein Publikum sowohl kultiviert unterhalten wie auch zum Nachdenken anregen will.
Pressephoto Credit: Ralph Baiker

Die Alpen-Gebirgsgruppe Karwendel liegt zu 80% im österreichischen Tirol und zu 20% in Bayern. Ein karges Massiv, dessen monumentale Erscheinung Respekt gegenüber der Natur einflößt, was wiederum zur inneren Einkehr und zu einer Klarheit der Gedanken und Gefühle führen kann. Für Sebastian Król war der Aufenthalt in dem Gebiet wohl auch deshalb nicht nur Inspiration für die Namensgebung, sondern die Bergkette stand auch als Sinnbild für seine attraktiven, aufs Wesentliche konzentrierte Kompositionen. Die Transformation vom Dichter zum deutschsprachigen Musiker wurde aufgrund dieser Erfahrungen in einer Selbstversorgerhütte in den Bergen vollzogen. Die als Solo-Interpretationen konzipierten und entstandenen Lieder bekamen dann im Band-Kontext bei der Studioarbeit durch Interaktionen schon mal eine ganz andere Richtung verpasst. 

Wie auch beim Opener "Areal", der eigentlich forsch angegangen werden sollte, sich aber durch Umstellungen beim Arrangement zu einem intim-luftigen, reif-süffigen Folk-Jazz entwickelte. Es geht eben nichts über gegenseitige kreative Befruchtung, wenn die Chemie zwischen den agierenden Personen stimmt. Dadurch sind eigentlich alle magischen Studio-Momente in der Pop-Geschichte entstanden. Hier dient sogar der Sound des "Areal"-Studios in Stuttgart als "Instrument", weil der Raum, also dessen Volumen hörbar gemacht wird. Selbst die konzentrierte Vorbereitung von Sebastian auf den Song ist wahrnehmbar. Ein tiefes Ausatmen, dass die Anspannung löst und die Fokussierung ermöglicht, wird übertragen, ist ein Element der sich ergebenen organischen Entwicklung und lässt die Hörenden am Entstehungsprozesses unmittelbar teilhaben.

Das titelgebende Stück der EP "Für den Moment" aus dem Vorjahr war auf dieser gar nicht enthalten, findet jetzt aber seine zauber- und märchenhaft-melancholische Premiere, wobei sich der Song irgendwo zwischen Traumwelt und Realität ansiedelt. Zum Inhalt gibt es folgenden Kommentar des Verfassers: "„Für den Moment“ nimmt besonders die Traurigkeit in den Blick; die Stunden und Tage nach dem Rausch, wenn erst der Blick nach vorne neue Kraft schöpfen lässt." 
"Einzige Welt" ist das erste Lied, das während des Karwendel-Urlaubs Gestalt annahm und konträre Gefühlsebenen vereint: Zugleich gehaltvoll und leichtfüßig sollte es sein. Es geht um den gedanklichen Umgang mit der Sterblichkeit, der zu emotionaler Überforderung führen kann. Und dann sind es die kleinen Freuden des Lebens, die diese Tristesse mit einem Schlag wegwischen können. Der optimistische Selbsterhaltungs- und Belohnungs-Trieb hat gesiegt und die Welt ist wieder in Ordnung. Entsprechend laufen Dur- und Moll-Töne parallel und auch vermischt ab. Sie bringen den Barock-Folk mal zum Hüpfen und dann wieder laden sie zum Innehalten ein.
Durch die weitgefasste Instrumentierung der einfühlsamen Instrumentalisten wird die Möglichkeit geschaffen, die Songs weit über eine Einordnung in Genre-Schubladen herauszuheben. So ist "Blitze im Nichts" nicht einfach nur ein cooles, locker trabendes Country-Folk-Stück geworden, sondern das punktuell eingesetzte Piano und die cremige Klarinette machen den Weg für eine Ballade frei, die sich nicht in Schwermut verliert, sondern etliche Deutungs-Möglichkeiten offen lässt - musikalisch und textlich. Es geht eigentlich um den Verlust kindlicher Vorstellungskraft, die durch die Zwänge des Erwachsenen-Alltags zerstört wird. Sebastian macht jedoch deutlich, dass die Fantasie durch die Kraft der Literatur und der Musik auf eine andere Ebene gehoben und neu aufgebaut werden kann.
"Du verglühst" basiert auf Gedanken zum Klimawandel, entsprechend dunkel, bedrohlich und schwer legen sich die Noten auf die Worte. Der Wunsch nach Harmonie findet sich im sanften Gleiten des Stückes wieder, aber in den Geigen- und Klarinetten-Tönen drücken sich dagegen Qual und Leid aus. "Im Lied besinge ich die Natur wie eine Geliebte, der ich zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt und die ich dadurch verloren habe", erklärt Sebastian. "Bin ich vergangen – Wirst Du noch einmal geboren", heißt es im Text. Ein Hinweis darauf, dass uns die Natur nicht braucht, wir aber nicht ohne sie, so wie sie jetzt (noch) besteht, leben können.
Der eingängige Folk-Pop "Ständig neu verliebt" fängt auf charmant-abgeklärte Weise den Blues ein, der sich auf die Seele legt, wenn ein schönes Erlebnis endet und der Alltag allmählich die angenehmen Erinnerungen auffrisst. 
Kindheitserlebnisse in Form von Süd-Frankreich-Urlauben haben zur Entstehung von "Wir tapsten im Licht" geführt und lassen uns nicht zuletzt dank des emotional ausdrucksstarken, eigentümlichen Gesanges bildhaft in die tief verwurzelten Erinnerungen der Vergangenheit blicken. Musikalisch finden Americana-Klänge, Klassik-Einstreuungen und Modern-Jazz-Tupfer elegant zueinander, so dass ein reizvoller, bewegender Song entstehen konnte.
Bei "Zusammen" geht es um den Verlust eines geliebten Menschen und wie dieser einschneidende Umstand die Hinterbliebenen enger zusammen rücken lässt. Wohlig warm und zart umweht dabei das Piano das mild groovende Thema, so dass sich eine Aura breit macht, die in der Lage ist, solch ernsten Gedanken noch silberne Flügel zu verleihen. 
Wir und unsere Vor- und Nachfahren beweg(t)en uns in Zeit und Raum voran. Dabei ist unser Leben nur ein winziger Punkt im Gesamt-Geschehen, stellt Sebastian fest. Er meint dazu: "Ein Gedanke, der mich demütig macht und meine eigenen Probleme kleiner erscheinen lässt." Diese Überlegungen liegen "Niemals nur Du selbst" zu Grunde und werden unter Verwendung einer dramatisch-kunstvollen Untermalung nahegebracht. 
Zum Schluss des Albums geht es nochmal um das unvermeidliche Ende. Dennoch ist "Wenn sich der Abend legt" alles andere als hoffnungslos, denn es bleibt der Gedanke, dass der Tod doch nicht das Ende bedeutet. Macht nicht alles andere sowieso keinen Sinn? Eine belebend streichelnde Slide-Gitarre schmückt dabei den ruhigen, langsamen Soft-Rock mit beschwichtigenden Tönen, die den rauschhaften Geist von "Wish You Were Here" von Pink Floyd in sich tragen.

Es liegen viele belastende Gedanken über den Liedern, aber dennoch erzeugen sie keinen Trübsinn, sondern eine behagliche, süße Schwere, weil die Themen so menschlich warm und beglückend verpackt werden. Die Songs gewinnen durch die Deutungen und Kommentare von Sebastianl, die teilweise in diesen Text eingeflossen sind, zusätzlich an Überzeugungskraft. Das hätten sie eigentlich gar nicht nötig gehabt, weil sie für sich selbst sprechen. Aber wer möchte, kann über die Fanklub-Initiative, die der hauptberufliche Promoter Sebastian Król mitgegründet hat, noch weiter ins Geschehen eintauchen und für ab 1,99 Euro Beitrag pro Monat zusätzliche Einblicke in Form von Hintergrundinformationen (wie Track-By-Track-Betrachtungen) oder exklusiven Aufnahmen bekommen. Gleichzeitig wird so auch noch die alternative Musikszene unterstützt. Grade jetzt ist das ein sinnvoller Beitrag zur Erhaltung der Kultur, der eine Win-Win-Beziehung zwischen den der Organisation angeschlossenen Künstlern und den Fans bietet.

Ernsthaft-anspruchsvolle Lieder mit lyrischer Kraft und sensibel-ausdrucksvoller Vertonung in deutscher Sprache sind selten geworden in unserem Land. Da tut es gut, wenn sich jemand in diesem hochwillkommenen Metier auskennt und gehaltvolle Klänge zum Entdecken freigibt. Die bekannten Stücke haben seit dem letzten Jahr nichts von ihrer Faszination eingebüßt und die neuen Songs passen sich organisch und sinnvoll in diesen Reigen ein. "Im Lichte der Zeit" ist wie aus einem Guss, ohne Fehl und Tadel und für den nachhaltigen Genuss geeignet.

Unter Karwendel - Für den Moment gibt es weiterführende Betrachtungen zu den Liedern:
- "Einzige Welt"
- "Ständig neu verliebt"
- "Du verglühst"
- "Niemals nur Du selbst"
- "Zusammen" 

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