Karwendel - Für den Moment (VÖ: 22. Januar 2021)

 
Karwendel präsentieren Lieder, bei denen Text und Musik gleich wichtig sind. Lieder von unerfüllter Liebe, die unbequeme Wahrheiten, wie den Trugschluss der absoluten Freiheit formulieren, die dem Unabwendbaren eine erträgliche Fassade verpassen und die auch dem Scheitern, der Schwäche und dem naiven Vertrauen ein hoffnungsvolles Gesicht entgegensetzen. Das sind nur ein paar der Blickwinkel, die Karwendel, ein Projekt des Hamburger Singer-Songwriters Sebastian Król (Komposition, Gesang, Gitarre)aufzeigen. 
Der Bandname ist übrigens auf Erkenntnisse zurückzuführen, die Sebastian in der Abgeschiedenheit des Karwendel-Gebirges hinsichtlich des Umganges mit seinen Texten und Gedichten gewonnen hat. Ein Teil der Ergebnisse wurde vertont und liegt jetzt als digitale 5-Track-EP vor.

Ein schwungvoller Rhythmus stellt beim Eröffnungs-Chanson "Einzige Welt" einen reizvollen Kontrast zum nachdenklichen oder bestenfalls zweckoptimistisch-verhaltenen Gesang dar. Traurige Geigen legen einen grauen Schleier über die Stimmung und der standhafte Bass brummt mal mürrisch und ist mal um Auflockerung bemüht. Moll-Noten sind eben kein Garant für Sonnenschein. Punktuell eingesetzte Klarinetten-Klänge erschaffen dann schon eher lichte Momente. So kommt es in diesem Stück zu differenzierten Temperamentsäußerungen zum Thema Tod und wie man sich die Gedanken an ihn vom Halse hält. Dabei hilft ganz pragmatisch das Vergnügen an kleinen Genüssen. Das ist so weise wie banal und doch so schwer im Alltag umzusetzen.
Auch "Ständig neu verliebt" nutzt geerdete ländliche Takte - die ein Sinnbild für Ursprünglichkeit und Bodenständigkeit darstellen - als Grundlage für die Verbreitung von alltagstauglicher Lyrik. Eine Querflöte verbreitet klassisch anmutende Romantik und Laila Nysten verwandelt als Gesangspartnerin bitter-süße Melancholie durch ihre milde Weichzeichnung in gemütliche Pop-Laune. Ganz im Sinne der Verse: "Wer sich weit raus begibt/Sich ständig neu verliebt/Erinnert sich, wie schön das klang/Als die Furcht im Meer versank." 
Ganz langsam, wie unter Valium, wird "Du verglühst" im Country-Noir-Modus angestimmt. Die Stimme trägt schwer an den Worten und schwankt zwischen Hoffen und Bangen. In dieses Kummer/Zuversicht-Gemisch schleicht sich die Klarinette, bricht mit schräg-wilden, psychedelisch-hirnfressenden Tönen in diese wohlig-düstere Verlust-Stimmung ein und zerreißt die Luft wie ein reinigendes Gewitter. Sebastian Król macht aus der Not eine Tugend: Bleierne Tristesse wird in zerbrechlich wirkende Schönheit transformiert. Dezent, kaum merklich setzt der Background-Gesang von Laila Nysten dabei sinnlich-verträumte Signale. 

Eine Art Late-Night-Folk Jazz verleiht "Niemals nur du selbst" einen mystisch-schöpferischen Charakter. Die konstruktiv-verspielte, sowie kultivierte Musik passt vom Stimmungsbild her genau zum teilweise kryptisch formulierten Text. Das Stück geht durch seine bedrohliche und spannende Vertonung intensiv unter die Haut. Der akustisch dargestellte Reiz der Gefahr führt hier zu einer erhöhten Aufmerksamkeit.

Für "Zusammen" hat der Komponist folgende Erklärung parat: „Das Lied betont den positiven Effekt eines gemeinsamen Verlustes: Dass die Hinterbliebenen enger zusammenrücken und füreinander da sind.‟ Das beschreibt den aufbauenden Aspekt, der in der gedanken- und gefühlvollen Musik mitschwingt, die von einem stabilen, vorwärts strebenden Rhythmus getragen und verwehten, wehmütigen Piano- und Klarinetten-Tönen umrahmt wird. 
Sämtliche Songs auf "Für den Moment" sind abwechslungsreich instrumentiert. Die Instrumente werden jedoch nicht unbedingt flächendeckend, sondern je nach Veranlassung emotional abgestimmt eingesetzt, wobei transparente Arrangements ohne eindeutige Stilzuweisungen entstanden sind. Króls Stimme kommt bescheiden, aber effektiv daher, weil sie die Stücke mit Halt, Kontur und individuellem Ausdruck ausstattet. Wenn nötig, verfällt er auch mal in ein leicht erregtes Tremolo. Beim Duett-Gesang herrscht Gleichberechtigung. Die Schaffung einer atmosphärischen Dichte ist ausschlaggebend dafür, wie die Stimme(n) eingesetzt werden. Die Texte transportieren eine Lyrik, die gegenständliche Formen und abstrakte Formulierungen benutzt. Dabei bleibt der Sinn grundsätzlich erfassbar, es werden aber metaphysische Ausblicke genutzt, um Denkanstöße zu liefern. Das geschieht auf einer Ebene, die die Texte auch unabhängig von den Tönen ausdrucksstark erscheinen lassen.

Die Musiker von Karwendel machen Hoffnung. Die Musik vermittelt Kraft und Zuversicht in undurchsichtigen Situationen oder verworrenen Gedankenwelten, die zu Krisen führen können. Und Sebastian Król zeigt auf, dass deutschsprachige Pop-Musik viel mehr bieten kann als das, was die Top-20 der Charts bevölkert. Nämlich kunstvoll-intelligent gedrechselte Lieder, die introvertiert, lebensnah und spannend dargeboten werden und die zu mehr als zum kurzfristigen Gebrauch geeignet sind. Karwendel hecheln nicht irgendeinem Trend hinterher. Die Klänge erscheinen ursprünglich, naturbelassen, kreativ, empathisch und eigenständig. Im Vordergrund steht die suggestiv-eindringliche Wirkung der Songs, ihre Intensität und Individualität.

Sebastian Król konnte bei der Umsetzung auf eine erstklassige Begleit-Band zugreifen: Max Braun (Produktion, Bass, Klavier) und Johann Polzer (Schlagzeug, Perkussionen) von BRTHR bilden nicht nur das stramm-flexible Rhythmus-Gerüst, sondern sind auch für etliche Sound-Details zuständig. Genauso wichtig für die feingliedrige Gestaltung sind Laila Nysten (Geige, Gesang, Klavier) und Carsten Netz (Klarinette, Saxophon, Querflöte), die sich extrem einfühlsam verhalten.

Diese EP wirkt wie ein geschlossenes Ganzes, wie ein Geschenk in dunkler Zeit, welches die Seele erwärmt, wenn die Welt aus dem Ruder zu laufen droht. Wie unter dem grellen Licht einer Operationslampe (siehe Cover-Foto) werden Ereignisse analysiert und mit menschlicher Zuwendung aufbereitet. Die Aufnahmen gibt es zurzeit nur in digitaler Form, sie sind also haptisch nicht wahrnehmbar, wirken dadurch flüchtig und mysteriös, wie ein geborgener Schatz, dessen Wert zunächst nicht abgeschätzt werden kann. Es wird schnell klar: Das sind Lieder, die das Prädikat "Besonders Wertvoll" verdient haben und die als edel aufgemachtes Vinyl präsentiert werden sollten. Was auch mit zusätzlichen Tracks für Ende 2021 geplant ist.


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