Max Richter - From Sleep (2015)

Experiment und Lebenshilfe zugleich: Max Richter komponierte mit „Sleep“ ein achtstündiges Opus, das als Wiegenlied verstanden werden soll.
Max Richters „Sleep” ist das wahnwitzigste Projekt seit „ORGAN2/ASLSP“ von John Cage, dem bisher längsten geplanten Stück Musik, das auf insgesamt 639 Jahre Austragungszeit ausgerichtet ist. „Sleep“ nimmt sich mit seinen 8 Stunden Laufzeit dagegen eher bescheiden aus, ist aber dennoch ein Großprojekt. Als Wiegenlied und Manifest für eine langsamere Gangart des Lebens wird das Konzeptwerk vom Komponisten beschrieben. Es sei auch ein Experiment, um zu verstehen, wie wir Musik in verschiedenen Bewusstseinszuständen erleben, meint sein Erfinder. Nebenbei möchte Richter herausfinden, wie das Gehirn Lebensraum für die Musik sein kann, wenn unser Bewusstsein Urlaub hat. Um mehr über die Gehirnfunktionen beim Schlafen zu erfahren, wurde der amerikanische Neurowissenschaftler David Eagleman befragt und dessen Erkenntnisse flossen bei der Entstehung von „Sleep“ mit ein. Die Uraufführung ist im Oktober in Berlin geplant. Sie wird von Mitternacht bis acht Uhr morgens stattfinden und für die Konzertbesucher werden Betten anstatt von Sitzplätzen bereitgestellt.
from SLEEP (Limited Edition) - Richter, Max, Davidson, Grace, Acme ...
Wer sich nicht mit der vollständigen Fassung von „Sleep“ beschäftigen möchte, die es zunächst nur als Download geben wird, der kann sich auch diesen einstündigen Auszug zulegen, der Grundlage dieser Rezension war. Die Musik ist grundsätzlich eine ganz ruhige Angelegenheit geworden und wurde für Klavier, Streicher, Elektronik und Gesangsstimme geschrieben. Nur wenige Klavier- und Streicher-Akkorde begleiten „Dream 3 (in the midst of my life)“ in Minimal-Art-Form. Das Stück hat die suggestive Kraft einer Steve Reich-Komposition und die wohltuende Entschleunigungswirkung einer kammermusikalischen Vorführung. Als Hörer fühlt man sich bei diesem Klangkonstrukt gut aufgehoben und behütet, auch wenn ein grauer Schleier über den Noten liegt.
„Path 5 (delta)“ wird durch sphärische weibliche Gesänge eingerahmt, wodurch vor dem geistigen Auge verwunschene Landschaften aus dem Nebel auftauchen. Die eindimensionale Orgel erinnert dabei an andächtige Gottesdienste. Eine ähnliche Ausrichtung verfolgt „Dream 8 (late and soon)”, nur dass hier die Orgel-Klänge durch Cello-Akkorde ersetzt wurden. Mit „Space 11 (invisible pages over)“ und „Space 21 (petrichor)” taucht der Hörer in ein Weltraum-Szenario ein, für das Schwebeklänge kreiert wurden, die Leere und Unendlichkeit symbolisieren. Klavier, Cello und dezente Electronics ergänzen und umwerben sich bei „Dream 13 (minus even)” und „Path 19 (yet frailest)“. Romantische Stimmungen stehen hier im Mittelpunkt.
Die Schöpfungen des in Deutschland geborenen, in England aufgewachsenen und aktuell in Berlin beheimateten Komponisten haben zwar einen intellektuellen Konzeptions-Überbau, sind aber trotzdem durchsichtig und nachvollziehbar. Sie strömen bei aller Schlichtheit und minimalistischen Durchführung häufig Wärme und Behaglichkeit aus. Auch die dunkleren, bedrohlicheren Elemente, die in „Path 5 (delta)” zu hören sind, schrecken nicht ab, sondern sind durchaus zur anregenden Entspannung geeignet. Damit ist Richters neueste Kreation auch für alle Schlaflosen als rezeptfreie Möglichkeit, die wache Zeit mit akustischer Ablenkung sinnvoll zu überbrücken, freigegeben. Und alle Musikfreunde, die an Minimal-Art interessiert sind, sollten natürlich auch mal rein hören und können vielleicht dadurch ihr Schlafverhalten verbessern. Max Richter geht davon aus, dass man der kürzeren Version aufmerksam zuhören wird, das gesamte Werk ist aber dazu bestimmt, beim Schlafen gehört zu werden. Es lebe das Unterbewusstsein!

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