Lost & Found-Portrait: Paul Simon - Kann denn Mainstream Sünde sein?
Er fühlte sich unter
Druck gesetzt und befürchtete, die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllen
zu können, als 1970 das Ende seiner musikalischen Partnerschaft mit ART
GARFUNKEL gekommen war. Das passierte auf dem Gipfel ihres größten
kommerziellen Erfolges mit BRIDGE OVER TROUBLED WATER. Beim Folk-Pop-Duo SIMON
& GARFUNKEL war PAUL SIMON als Komponist und Texter die kreative Kraft und ART
GARFUNKEL mit seiner betörenden, immer ein wenig zu süßlichen, jubilierenden Tenorstimme
eigentlich nur das schmückende Beiwerk gewesen. Jetzt war der sensible Künstler
PAUL SIMON auf sich selbst gestellt. Das war Fluch und Segen zugleich. Fluch,
weil sein Selbstvertrauen angeknackst war und ihn Selbstzweifel quälten. Segen,
weil er seine kreativen Vorstellungen nun endlich ausleben und verwirklichen konnte.
LOST AND FOUND zeichnet den Verlauf und die Entwicklung der Studio-Alben von
PAUL SIMON nach, von dem RANDY NEWMAN behauptet, er sei der talentierteste
Komponist der letzten 50 Jahre gewesen.
Im Januar 1972 erschien Pauls erste Solo-Platte nach dem
Split von SIMON & GARFUNKEL, einfach PAUL SIMON betitelt.
Und man spürt,
dass hier seine ganze Energie, sein Herzblut und seine volle Aufmerksamkeit
drin steckt. Er litt nach der von ihm ausgehenden Trennung an Depressionen, die
er mit Medikamenten beseitigen wollte, schaffte die Bewältigung seiner
Minderwertigkeitskomplexe aber letztlich durch professionelle psychiatrische
Hilfe. Bei der Umsetzung seiner Solo-Aktivitäten folgte er dann strikten
Prinzipien: Neue Perspektiven suchen, Eigenständigkeit demonstrieren und
handwerklich höchste Qualität abliefern. Seine Songs sollten schwerelos erscheinen,
nichts durfte angestrengt oder gar abstrakt klingen. Er wollte eine emotionale Balance
zwischen Anspruch und Unterhaltung erreichen, damit das Ergebnis wertvoll und
verständlich ist. Und diese Rechnung ging hier schon auf. Das Album kam in den
USA und Großbritannien in die Top 10 und warf Kritikerlob und drei Hitsingles
ab. Die Weiterentwicklung von PAUL SIMON zeigte sich unter anderem daran, dass
er den Begriff Folk-Rock universell sah und damit schon früh die sogenannte
Weltmusik in seine Kunst einbezog und populär machte. MOTHER AND CHILD REUNION
ertönt im Reggae-Rhythmus und bei DUNCAN werden Panflöten eingesetzt. Diesen Anden-Folk-Verschnitt
gab es schon bei dem SIMON & GARFUNKEL Titel EL CONDOR PASA, aber originell
klingt er jetzt immer noch nicht, sondern eher wie für Touristen aufbereitete Folklore-Beschallung.
ME AND JULIO DOWN BY THE SCHOOLYARD hat eine heitere, lateinamerikanische
Ausstrahlung und HOBO`s BLUES ist ein kurzes Gypsy-Swing-Instrumentalstück mit
dem Jazz-Geiger STEPHANE GRAPPELLI. Diese kleine Auswahl zeigt schon das Bemühen
von PAUL SIMON, aus seinem bisherigen beschaulichen, stilistisch relativ engem
Korsett auszubrechen. Und das gelingt ihm mit leichter Hand, unverkrampft,
eingängig, aber mit Raffinesse umgesetzt. So wie die mal eben aus dem Ärmel
geschüttelten, wie beiläufig hingetupften Songs EVERYTHING PUT TOGETHER FALLS
APART und RUN THAT BODY DOWN beweisen.
Im Kern handelt es sich bei PAUL SIMON
um ein Pop-Musik-Album, das diesen Begriff jedoch weit auslegt. Es wuchert mit
reifen Melodien und wurde mit versierten Musikern eingespielt. Die Tracks sind
radiotauglich, haben aber auch erhebliches musikalisches Potential, sowohl
instrumental wie auch kompositorisch. SIMON hat einen exzellenten Gitarrenstil,
den er unter den Fittichen von Großmeister BERT JANSCH (ex-PENTANGLE) noch verfeinerte.
Kürzlich wurde er sogar in der Liste der besten Gitarristen vom ROLLING STONE mit
Platz 93 geehrt. Sein Können auf der akustischen Gitarre demonstriert er
besonders vortrefflich bei ARMISTICE DAY. Er singt stets mit milder, ausgeglichener,
frei fließender, nie aggressiver, aber bemerkenswert
akzentuierter Stimme, die sofort sympathisch
wirkt und sich ganz an den Flow der Lieder anschmiegt. PEACE LIKE A RIVER ist
hierfür ein Musterbeispiel. Selbst beim mit gleißender Slide-Gitarre und
monoton stampfenden Drums unterlegten PARANOIA BLUES lässt sich Paul nicht aus
der Reserve locken. Seine Interpretation bleibt überlegt und abgeklärt. Bei
seinen Texten hat sich der studierte Rechtswissenschaftler laut Rock-Lexikon
von viktorianischen Balladen, den Romanen von James Joyce, Kritzeleien an
Pissoirwänden und vom Reimlexikon anregen lassen.
Im Mai 1973 erblickte THERE GOES RHYMIN` SIMON das Licht der
Öffentlichkeit.
Das Album zeigte einen um Harmonie bestrebten, ambitionierten
Künstler, der gefühlvollen Perfektionismus vorstellt. Die Stimmung ist häufig
gelöst und SIMON probiert ein neues Umfeld aus. So sind 6 Songs in den
berühmten MUSCLE SHOALS SOUND STUDIOS in Alabama aufgenommen worden. Das Studio
wurde 1969 von den weißen Musikern Barry Beckett (Keyboards), Roger Hawkins
(Schlagzeug), Jimmy Johnson (Gitarre) und David Hood (Bass) gegründet. Diese
verhalfen vielen Größen, wie ARETHA FRANKLIN, WILSON PICKETT, THE STAPLE
SINGERS, LYNYRD SKYNYRD sowie BOB DYLAN und den ROLLING STONES zu einem
erdigen, seelenvollen, von der schwarzen Musik der Südstaaten geprägten Sound.
Dieser Geist wird auch hier transportiert. SIMON macht aber auch manchmal
entgegen seinen Richtlinien nicht vor kitschiger Sentimentalität halt, wie bei
AMERICAN TUNE oder WAS A SUNNY DAY zu hören ist. Dass passiert allerdings auch
anderen hochgradig begabten Pop-Künstlern wie z.B. PAUL McCARTNEY. Der ist nur
zu Höchstleistungen fähig, wenn er entweder einen kreativen Sparringspartner
hat oder eine persönliche Krise durchlebt. Arbeitet er ohne Druck vor sich hin,
produziert er teilweise Belanglosigkeiten. Man erlebt häufig, dass Künstler
unter Leidensdruck ihre intensivsten Arbeiten vorlegen. Bei PAUL SIMON ist das
genau anders herum. Er braucht Ausgeglichenheit, um seine Talente voll entfalten zu können. Hat er psychischen
Stress, hemmt das seinen Einfallsreichtum. Aber THERE GOES RHYMIN` SIMON ist
ein überdurchschnittlich gutes Werk geworden, sowohl musikalisch wie auch
textlich. Beim lockeren Opener KODACHROME geht es darum, dass Fotos die Wirklichkeit häufig in
schöneren Farben darstellen als sie tatsächlich ist. Es geht also um
Verzerrungen der Realität, denen wir ständig bewusst oder unbewusst ausgesetzt
sind. Leider hatte SIMON nicht beachtet, dass KODACHROME ein geschützter
Markenname ist und deshalb wurde das Lied
bei der BBC wegen Schleichwerbung nicht gespielt. LEARN HOW TO FALL hat
ein kurzes, aufgekratztes, an JERRY GARCIA von GRATEFUL DEAD erinnerndes
E-Gitarren-Solo, das dem leicht verschlafenen Track Farbe verleiht.
SIMON`s Spiel
mit Pop-Zitaten ist ebenso charmant wie clever. So huldigt er stilsicher dem mehrstimmigen
Doo-Wop-Gesangsstil aus den 50er Jahren, einer frühen Erfahrung in seiner
Laufbahn. Zu hören ist dies z.B. bei der Hit-Single LOVES ME LIKE A ROCK. Er
verbindet bei THERE GOES… gekonnt liebgewonnene traditionelle Stile mit
aktuellen Strömungen der New Yorker Folk-Szene zu einem ausgeglichenen Gesamtkunstwerk.
Und ganz nebenbei stellt er auch seine alten Fans zufrieden.
Der Nachfolger STILL CRAZY AFTER ALL THESE YEARS von 1975 wirkt
dagegen relativ unauffällig.
SIMON sagte einmal, er wäre so ziemlich das
Gegenteil von Avantgarde und er mache eigentlich nie das, was allgemein als
cool gelte. In diesem Zusammenhang ist es aber für einen erfolgsverwöhnten
Musiker ganz schön cool, ein Album herauszubringen, das nur einen
offensichtlichen Hit beherbergt, nämlich das unverwüstliche 50 WAYS TO LEAVE
YOUR LOVER. Die Reserviertheit des Albums hat wahrscheinlich mit seiner
damaligen Lebenssituation zu tun: STILL CRAZY… dokumentierte die Zeit der
Trennung von seiner Frau PEGGY HARPER. Die Lieder sind feingesponnen und stellen
eine Hinwendung zu orchestralen und leicht verspielten Jazz-Arrangements in den
Vordergrund. Der zarte Schmelz von Melancholie führt zu einer Verlängerung der
Halbwertszeit. Er verleiht den Melodien eine gewisse Seriosität, die man bei
leichten Pop-Nummern eher selten vorfindet. So sind ihm einige gediegene Songs
gelungen, wie das elegante I DO IT FOR YOUR LOVE, das himmlisch-zarte NIGHT
GAME, die Easy-Listening-Hymne HAVE A GOOD TIME und das düstere SILENT EYES.
1980 versuchte er dann einen strikten Neuanfang, der auch
mit einem Labelwechsel verbunden war. Hatte er bisher nur bei COLUMBIA RECORDS
veröffentlicht, so kam sein neues Projekt ONE TRICK PONY bei WARNER BROTHERS
raus.
Dabei handelte es sich um den Soundtrack zum gleichnamigen Film, in dem
PAUL SIMON die Hauptrolle spielte und dessen Drehbuch er verfasst hatte.
Musikalisch setzt er bei STILL CRAZY… an und untermalte den Streifen mit leicht
funkigen Jazz- Folk-Tracks, die die Geschichte gut unterstützen. Der Soundtrack
beherbergt aber auch einige nichtssagende Durchschnitts-Pop-Nummern. Der beste
Song ist der Opener LATE IN THE EVENING, der auch als Single ausgekoppelt wurde
und in den USA Platz 6 der Charts erreichte.
Dabei handelt es sich um einen
mitreißenden Latin-Style-Song, der zu Pauls ausgefeiltesten Kompositionen
überhaupt gehört. Jedoch kam weder der Film, noch das Album gut beim Publikum
und bei den Kritikern an.
1983 folgte HEARTS AND BONES, das sich noch schlechter als
der Vorgänger verkaufte.
Was aber nicht an der Qualität lag, denn es ist eines
seiner persönlichsten und ambitioniertesten Alben geworden. Die LP war als
SIMON & GARFUNKEL-Co-Produktion geplant. Nach erneuten Meinungsverschiedenheiten
nahm Paul die Songs jedoch nochmal neu ohne GARFUNKEL auf, obwohl die
gemeinsamen Einspielungen schon fertig waren. Er veröffentlichte die Musik
schließlich, ohne dafür Werbung gemacht zu machen. Jedes Lied beinhaltet
delikate Kabinettstückchen. So hat der Jazz-Rock-Gitarrist AL DiMEOLA beim
ersten Song ALLERGIES die Gelegenheit, seine Fingerfertigkeit mit einem
Hochgeschwindigkeits-Solo unter Beweis zu stellen. Dies verkommt aber nicht zu
einer Technik-Demonstration, sondern wird stimmig in den Ablauf eingebaut.
Eine
E-Piano-Grundierung, Vibraphon-Tupfer und weiche Background-Stimmen sorgen bei
TRAIN IN THE DISTANCE für ein wattiges, locker-luftiges Gefühl . Das Album ist
insgesamt sehr geschmackvoll zusammengestellt und wurde sorgfältig in Szene
gesetzt. Es hat etliche Stimmungs- und Tempowechsel und ist trotzdem konzeptionell
rund.
Nachdem auch seine zweite Ehe mit CARRIE FISHER - der
Prinzessin Leia aus Star Wars - scheiterte, litt er unter einer Schreibblockade,
denn als feinfühliger Künstler hat er zum Einen die Gabe, seine Emotionen
anschaulich in Musik umzusetzen, ist aber zum Anderen auch sehr dünnhäutig, was
den Umgang mit Kritik betrifft. Misserfolg und Ablehnung machen ihm sehr zu
schaffen, was wahrscheinlich in seiner Biografie begründet ist. Er wurde als
Sohn ungarisch-jüdischer Auswanderer 1941 geboren und wuchs im New Yorker
Stadtteil Queens bei liebe- und verständnisvollen Eltern auf. Sein Vater Louis
war ein Bass- und Violinspieler im Radioorchester, seine Mutter Belle war
Grundschullehrerin, die auch Musik unterrichtete. Da war die Prägung
vorbestimmt. Sein Vater brachte ihm schon früh das Gitarre spielen und
Songschreiben bei und vermittelte ihm die Liebe zur Musik. Hieraus formte sich
ein empfindsamer, detailverliebter, ehrgeiziger, teils pedantischer
Kontrollfreak, der mit seiner Musik nicht rebellieren, sondern auf höchstem
Niveau unterhalten wollte.
Nach seiner 2. Scheidung sinniert er lange über eine
bedeutende Änderung seiner musikalischen Ausrichtung nach. Als ihm eine
Kassette mit südafrikanischer Musik in die Hände fällt, war das Inspiration für
ihn, eine Fusion mit seiner bisherigen musikalischen Welt zu versuchen. Das
Ergebnis ist ein Meilenstein der Symbiose von westlicher Popmusik mit
afrikanischer Folklore geworden, nämlich GRACELAND, das 1986 für Furore sorgte.
Das Album war ein Megaseller, rief aber auch Kritiker auf den Plan, die SIMON
vorwarfen, er habe mit seinem Projekt gegen den Boykott der Apartheitsregierung
von Südafrika verstoßen. Im Nachhinein betrachtet war diese Aktion aber eher
förderlich für die Kultur und die Musiker des Landes. PAUL SIMON versteht es,
den exotischen Sound Südafrikas so mit westlicher Popmusik zu kombinieren, dass
das Resultat beschwingt und ungekünstelt erscheint. Er fand mit Cajun und
Cydeco verwandte ethnische Klänge und baute diese genauso ins Gesamtbild ein,
wie den Tex-Mex-Sound von LOS LOBOS. Hier ist ihm das Kunststück gelungen,
komplexe, beinahe unvereinbare Töne wie selbstverständlich zusammengehörend klingen
zu lassen. Auch über die Jahre hat GRACELAND nichts von seiner Faszination
eingebüßt. Im Gegenteil, die remasterte Version von 2012 offenbart weitere
Details und ist auch für Klang-Gourmets eine Offenbarung. Das Album ist ein
einziger vor Ideen strotzender Trip, der den aufgeschlossenen Hörer in eine funkensprühende,
bunte, lebendige musikalische Welt entführt.
Auch das Nachfolgealbum THE RHYTHM OF THE SAINTS ist von
traditioneller Folklore beeinflusst.
Dieses Mal
werden hauptsächlich brasilianische Klänge verwoben. Wie der Titel
vermuten lässt, liegt die Hauptausrichtung der Tracks auf dem Rhythmus.
Trommeln und andere Rhythmusinstrumente stehen im Vordergrund. Jedoch klingt
das Album selten nach Samba oder Bossa Nova, die Einflüsse sind ursprünglicher.
Für den nicht Eingeweihten könnten die Klänge genauso aus Afrika stammen. Die
Rhythmen sind gleichförmig-hypnotisch oder auch polyrhythmisch angelegt, zielen
aber eher auf eine spirituelle Erfahrung als auf den Tanzboden. SIMON fungiert
hier als Botschafter fremder Musikkulturen, seine vom intellektuellen Folk
geprägte Schreibkunst stellt er hinten an. Die Lieder wirken gänzlich
unkommerziell, denn die ausladenden, wenig eingängigen Melodien zünden nicht
beim flüchtigen Hinhören. Sie sind im Gegensatz zu den bisherigen SIMON-Kompositionen
sogar relativ schwer zu hören. Obwohl der Opener THE OBVIOUS CHILD noch eine
relativ einnehmende Melodie besitzt, fordern einem die trockenen, stoischen, protzigen,
dominanten Trommeln schon ein gewisses Durchhaltevermögen ab. Durch feinsinnige
Begleitungen bekommen CAN`T RUN BUT, FURTHER TO FLY, COOL COOL RIVER und THE
RHYTHM OF THE SAINTS eine fragile Betonung und eine elegante Ausrichtung. Bei
THE COAST, PROOF, SHE MOVES ON, BORN AT THE RIGHT TIME und SPIRIT VOICES
vermischen sich afrikanische und brasilianische Beigaben für den Laien vollständig.
Das Album verlangt dem Hörer einiges an Konzentration ab, belohnt aber mit
einer außergewöhnlichen Hörerfahrung.
Während der Aufnahmen zu THE RHYTHM OF THE SAINTS reifte die
Idee, die Geschichte von Salvador Agron zu einem Musical zu verarbeiten.
Salvador Agron, der als 16jähriger zum Doppelmörder geworden war, entwickelte
sich während seiner Haftzeit vom kaltblütigen Gewalttäter zum Poeten und Sprachrohr
seiner Mitgefangenen. Zusammen mit dem Drehbuchautor und Texter DEREK WALCOTT
schrieb SIMON darüber die Broadwayproduktion THE CAPEMAN, die über 11 Millionen
Dollar verschlang.
Sie wurde aber schon nach 3 Monaten mangels
Zuschauerzuspruch wieder abgesetzt – ein finanzielles Desaster. Kritiker
lasteten SIMON auch an, dass er sich bei der Story mehr um die Belange des
Täters als um die der Opfer gekümmert hatte. Die CD-Version des Musicals von
1997 ist für PAUL SIMON-Verhältnisse eher dürftig ausgefallen, da sie musikalisch
zu gefällig und durchschaubar geriet.
Lenken wir unsere Aufmerksamkeit lieber auf das nächste
Projekt: Erst 3 Jahren nach THE CAPEMAN erschien im Jahr 2000 mit YOU`RE THE
ONE eine bedächtige Bestandsaufnahme.
Außerdem ist dieser Liederzyklus eine Liebeserklärung
an die Sängerin EDIE BRICKELL, mit der Paul bis heute verheiratet ist. Diese Aufnahmen
zeigen ihn als reifen Sound-Architekten, der innehält und die Erfahrungen
seines Lebens Revue passieren lässt. So finden sich hier neben Folk-Songs auch
rhythmische Ausflüge nach Afrika und in die Karibik. Dieses Mal in bewährter hoher
Qualität.
PAUL SIMON war nun für eine lange Zeit hauptsächlich Familienvater.
Sein Comeback SURPRISE von 2006 offenbarte dann wahrlich eine Überraschung:
PAUL SIMON verband Folk mit Electronics.
Und es funktionierte – vorzüglich
sogar! Zur Seite stand ihm dabei ein Pionier der Erschaffung von elektronischen
Musik-Landschaften: BRIAN ENO, Gründungsmitglied und Paradiesvogel bei ROXY
MUSIC und später angesehener Produzent solcher Acts wie den TALKING HEADS oder
U2. Er hat maßgeblichen Anteil daran, dass PAUL SIMON hier eine neue Linie
gefunden hat und diese Entwicklung weder aufgesetzt, noch künstlich oder
halbherzig klingt. Er untersetzt komplett alle Songs mit geschmackvollen Beats
und Loops. Highlights sind das dynamische, um Toleranz werbende HOW CAN YOU
LIVE IN THE NORTHEAST? mit seinen oszillierenden Gitarren. Außerdem das
semi-bombastische, ausgeklügelt-verzahnte quasi-Gebet WARTIME PRAYERS sowie der
Folk-Reggae-Hybrid FATHER AND DAUGHTER, eine mit perlenden Gitarrenläufen
angereicherte Hymne an seine Tochter.
SO BEAUTIFUL AND SO WHAT von 2011 knüpft da an, wo SURPRISE aufhörte und führt den dort
praktizierten abenteuerlichen Aspekt
fort, verzichtet aber auf elektronische Sound-Scapes.
Er setzt hier ganz auf
sein Gespür für Aufmerksamkeit erzeugende Klänge und nutzt Klangfarben aus
aller Welt, um sie mit US-Roots-Sounds wie Gospel, Folk und Country zu verschmelzen.
Das hat schon was vom Grenzen öffnenden Charakter von GRACELAND. Besonders
innovativ gelang das bei DAZZLING BLUE. Indische Tablas und Clay Pots
verschmelzen hier mit Country-Fiddle und Dobro zu einem lieblichen
World-Gospel. Bei REWRITE konkurriert eine afrikanische Kora mit einer wie
geloopt erscheinenden Folk-Blues-Endlosschleife. LOVE IS ETERNAL SACRED LIGHT
ist aufgedreht wie eine Square-Dance-Nummer und wird noch zusätzlich durch
Beats befeuert. Die Kreationen werden sehr eigen und gediegen interpretiert und
demonstrieren eindrucksvoll PAUL SIMONs Entdeckerlust.
Danach erschienen noch:
Kann denn Mainstream Sünde sein, das war die Ausgangsfrage dieser Betrachtung. Die Antwort ist: Im Prinzip ja, wenn Mainstream provozierend als Schimpfwort für berechenbare, charttaugliche, blutleere Massenware mit niedrigem Verfallsdatum angesehen wird. PAUL SIMON erlebt zwar Weltruhm und gehört sicher zu den umsatzstarken Musikern und damit kommerziell gesehen zum Mainstream, in solch eine Kategorie lässt er sich aber beim besten Willen nicht einordnen. Denn er wollte auf Dauer keine vorhersehbare Musik produzieren, sondern strebte nach künstlerischer Entwicklung im Rahmen seiner Erfahrungen und Erwartungen. Er nutzte seinen Ruhm, um seinem Publikum neue Klang-Dimensionen zu eröffnen, blieb dabei aber bodenständig, nachvollziehbar und neugierig. Sein Werk weist ein enormes musikalisches Potential auf. Seine Musik öffnet Herz und Hirn. Wenn massentaugliche Popmusik so engagiert und gekonnt präsentiert wird wie von PAUL SIMON, dann wünscht man sich mehr davon und es stellt sich die Frage nach billigem Mainstream erst gar nicht. PAUL SIMON gehört zu den wenigen großen Pop-Musikern, die sich nicht auf ihrem frühen Ruhm ausgeruht haben, sondern die von ihrer Leidenschaft zur Musik ständig zu neuen Herausforderungen angetrieben wurden.
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