RADIOHEAD - A MOON SHAPED POOL (2016)

Jetzt gibt es A MOON SHAPED POOL, das neunte Studio-Album von RADIOHEAD auch als physischen Tonträger. Die Gallionsfiguren des alternativen, experimentellen Rock räumen auf, rechnen ab und schließen Kreise.

Das neunte Studioalbum von Radiohead erschien bereits am 8. Mai 2016 als Download. Jetzt gibt es „A Moon Shaped Pool“ auch als physischen Tonträger zu erwerben. Das Quintett aus der Grafschaft Oxford ist aufgrund seiner oft rauschhaften, progressiv-experimentell ausgerichteten Sichtweise häufig mit Pink Floyd verglichen worden. Seit 1993 hat die Gruppe ihre Indie-Rock-Veröffentlichungen mehr und mehr in kunstvolle, ästhetische Gefilde überführt und bei ihrem neunten Werk vollendet sie jetzt lange schwebende Ideen.
A Moon Shaped Pool - Radiohead: Amazon.de: Musik
Mit seinen überwiegend bereits schon länger kursierenden Tracks, die hier erstmalig als fertige Studio-Versionen auftauchen, macht das Album den Eindruck einer Abrechnung oder der Beendigung einer Phase. Dafür spricht auch, dass der Deluxe-Version, die im September erscheinen soll, jeweils Schnipsel der Original-Masterbänder der Studio-Alben als Souvenir beiliegen. Auch durch diese Symbolik wird mit der Vergangenheit abgerechnet. Einige Songs sind ähnlich fragile, geheimnisvolle Gebilde wie der „Pyramid Song“ von „Amnesiac“ aus dem Jahr 2001: Romantisch-melancholische, monotone Piano-Figuren bestimmen bei „Daydreaming“ den Sound. Glocken und gespenstische Stimmen sowie wehende Elektronik-Fragmente lassen den Hintergrund verschwimmen. Der kräftig vibrierende Bass erdet das ansonsten psychedelisch angelegte „Decks Dark“. Das traurige „Glass Eyes“ wird durch zarte synthetische Splitter und die aufwühlenden Streichinstrumente des London Contemporary Orchestra in eine märchenhaft verwunschene Welt befördert.
„The Numbers“ beginnt mit einem perlenden Piano, das wellenartig angeordnete Töne verbreitet und die Melodie schwerelos dahingleiten lässt. Die Sinne werden betört und entspannt baut sich Dramatik auf. Schichtweise werden weitere Instrumente angeordnet und furiose Streicher schäumen die bedächtige Atmosphäre auf. Das ist exquisiter Psychedelic-Rock, wie er in ähnlicher Form schon von Jefferson Starship auf „Blows Against The Empire“ (1970) zelebriert wurde. Mit „True Love Waits“, das schon 1995 komponiert wurde, gibt es als Abschluss der Platte eine verloren wirkende Piano-Art-Pop Ballade mit Kunstlied-Anspruch.
Minimal-Art-Streicher-Kaskaden, wie von Steve Reich entliehen, erzeugen bei „Burn The Witch“ alarmierende Töne oder werden als weiche Beruhigungsmittel eingesetzt. Der klagende Gesang streift dabei Coldplay-Terrain, lässt den Track aber nicht in Depressionen erstarren.
Tranceartiger Folk-Jazz mit Anklängen an Pentangle und John Martyn kann bei „Desert Island Disk“ genossen werden. „Identikit“ bietet eine Rhythmik auf, die sowohl kantig wie auch geschmeidig ist. Das lässt an den Kraut-Rock von Can denken. Metallische Gitarren-Akkorde konkurrieren zusätzlich mit hymnischen Chören. Thom Yorke versucht, die teils unruhige Stimmung mit versöhnlichem Gesang zu beschwichtigen. „Present Tense“ überrascht mit luftigem Bossa-Nova-Flair, der in einem Progressive Rock-, Jazz- und Klassik-Strudel verwirbelt wird.
„Tinker Tailor Soldier Sailor Rich Man Poor Man Beggar Man Thief“ hat anfangs Elemente der Grabes-Kälte, die öfter bei „Kid A“ (2000) zu spüren sind. Es entwickelt sich jedoch zunehmend eine spannende Thriller-Atmosphäre, zu der die ausladenden Streicher und die sirenenhaften Chorstimmen sowie schillernde Keyboard-Flächen beitragen. Hier scheinen die Soundtrack-Erfahrungen von Jonny Greenwood großen Einfluss gehabt zu haben. Frostig-dröhnende Industrie-Rhythmen tauchen auch „Ful Stop“, das apokalyptische Züge trägt, zunächst in ein bedrohliches Licht. Die Takte werden im Verlauf zugänglicher und weisen dann in Richtung Indie-Rock-Dancefloor.
Es gibt Spekulationen darüber, dass „A Moon Shaped Pool“ das Abschiedsalbum von Radiohead sein könnte, denn Jonny Greenwood hat vermehrt Gefallen an Soundtrack-Produktionen gefunden und Thom Yorke strebt vielleicht eine Solo-Karriere an. Zudem sind die Songs alphabetisch angeordnet, was nicht unbedingt für ein künstlerisches Konzept spricht. So wird das verwertbare Material vielleicht deshalb nach logischen Kriterien aufgelistet und zur Verfügung gestellt, um einen sinnvollen Abschluss akkurat zu dokumentieren. Allerdings klingen die Lieder ganz und gar nicht nach Willkür oder Resterampe. Die Kollektion zeigt nochmal deutlich, zu was die Musiker in der Lage sind: Sie erheben den Rock zu einer Kunstform mit ehrfurchtsvollen Klängen, die Seelenqual und Seelenheil direkt nebeneinanderstellen.

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