MATTHIAS ARFMANN - BALLET JEUNESSE (2016)

Klassik-Bearbeitungen sind ja immer so eine Sache. Meistens kommt dabei eine schwülstige pseudo-intellektuelle Mixtur heraus, die weder Pop- nach Klassik-Anhänger zufrieden stellt. MATTHIAS ARFMANN hat jetzt eine Formel gefunden, die sowohl die Vorlagen respektvoll ins rechte Licht rückt, wie auch neue Wege aufzeichnet. Klassische Ballettmusik wurde für BALLET JEUNESSE so mit HipHop, Reggae, Soul und Pop aufbereitet, dass spannende neue Klangwelten entstanden.

Matthias Arfmann bereitet klassische Ballettmusik für die Jugend oder junggebliebene Hörer unkonventionell auf.

Wo Matthias Arfmann draufsteht, sind klangliche Abenteuer drin. Ob er nun swingend-flippigen Dub-Reggae oder exotisch-rauschhafte Weltmusik mit den Kastrierten Philosophen erdachte oder unter eigenem Namen mit Jazz und Psychedelic-Rock angereicherte Fusionen zelebrierte sowie Klassik-Produktionen remixte oder mit dem Turtle Bay Country Club stilvolle Club-Sounds generierte, immer konnte der geneigte Hörer sicher sein, dass seine volle Aufmerksamkeit und eine barrierefreie Sicht auf die Musik gefragt waren.
Arfmann wurde 1964 in Bremen geboren und gründete 1983 zusammen mit Katrin Achinger die Kastrierten Philosophen, deren Veröffentlichungen bis ins Jahr 1996 reichen. Daneben widmete er sich auch eigenen Aufnahmen und der Produktion anderer Künstler (BeginnerJan Delay). In der von ihm betreuten Band Turtle Bay Country Club singt die in Kenia geborene Musikerin Onejiru Schindler, die als flexible Sängerin eine Schlüsselrolle beim neuen Projekt „Ballet Jeunesse“ einnimmt: Motive klassischer Ballettmusik von unter anderem Tchaikovsky, Prokofiev, Stravinsky, Ravel oder Debussy, werden unter Mithilfe des Filmorchesters Babelsberg in einen unverbrauchten Kontext überführt, ohne dass dabei die Grundeinstellung der Komponisten abhandenkommt.
Matthias Arfmann: Presents Ballet Jeunesse (Digisleeve) (CD) – jpc
„Der Nussknacker“ leitet die sinfonischen Dichtungen im klassischen Modus ein. Unauffällige Dub-Elemente und moderat eingebaute Brüche bereiten den Hörer auf unerwartete Dinge vor. Dann wird die strenge Dramatik kurz durch hoffnungsvoll-tröstenden Gesang unterbrochen, der von Onejiru in mehreren Sprachen dargeboten wird. Es folgen aufwühlende Orchesterpassagen, die das Ruder an sich reißen. „Romeo und Julia“ erfährt überraschende Unterstützung durch aufmunternde HipHop-Beats und flippig-quietschende Synthesizer. In einer weiteren Version des Liedes wird der Rapper KRS One eingebaut und Onejiru steuert soulige Gesangseinlagen bei.
Beim „Feuervogel“ laufen HipHop-Rhythmen versetzt zu Orchester-Romantik ab. Das Ergebnis zeigt Thriller-artige Spannung. „Carmen“ verbreitet - wie nicht anders zu erwarten - spanisches Temperament, aber auch klatschende Takte, malerisch leise Töne und afrikanische Klangfarben haben ihren Platz. Leicht und schwärmerisch empfängt der „Säbeltanz“ den Hörer, bevor beim aufwühlenden Teil der Komposition ein Funk-Bass die Dynamik noch steigert. In einer zweiten Version rezitiert Schorsch Kamerun eigens hierfür von ihm geschriebene Texte, wobei er den Ausdruck und die Textmelodie gekonnt an den Musik-Fluss anpasst.
Die Eingangssequenz von „Peter und der Wolf“ bleibt unverfälscht erhalten. Anschließend ertönt ein überkandidelter schneller Part, bevor eine muntere Reggae-Sequenz nahtlos passend eingebaut wird. Es gibt noch eine Variante, für die Jan Delay als Sprecher des Originaltextes angeheuert wurde. Er ist jedoch nicht die beste Wahl für das erzählerische Element, denn seine Aussprache ist zu schnell und undeutlich, weil manche Silben verschluckt werden. Zumindest bemüht er sich, nicht so zu nuscheln wie als Sänger.
„Schwanensee“ eröffnet traditionell und wechselt unvermittelt in einen deftigen Reggae- und House-Modus. Klassische Ballettfiguren und Break-Beats gehen auch bei „Daphnis und Chloe“ eine leidenschaftliche Verbindung ein, die von selbstbewusstem Gesang von Onejiru besiegelt wird. Bei „Prelude a l`apres-midi d`un faune“ gibt es Sequenzen, die an Soundtracks fürs Blockbuster-Kino erinnern. Rigorose Rhythmen mit Störgeräuschen beschwören zusätzlich Chaosstimmung herauf. Diese Szenarien bestimmen den gesamten Ablauf des Stücks. Bei „Onegin“ verbindet dann verführerischer Gesang Soul mit Klassik.
Dramatik, Opulenz und Spannung erzeugt „The Lure“. Wagnerische Protzigkeit leuchtet punktuell auf. Der einladende Gesang holt den Track aber auf den Boden der Tatsachen zurück. „Gymnopedies“ verlagert das Ballett in die Disco und die Chill-Out-Zone des Turtle Bay Country Club. Schnell getaktete, pumpende Beats, die irgendwo zwischen New Order und House angesiedelt sind, bestimmen bei „Je Rêve“ das Klangbild. Das Stück taucht noch zwei Mal unter Mithilfe von Kele Okereke, dem Sänger und Gitarristen der Bloc Party, auf. Und zwar in der Single- sowie in der erweiterten Fassung.
Das Ballett-Projekt wurde von langer Hand geplant. Schon vor sieben Jahren gab es die Grundsteinlegung, bei der das Konzept vom Komponisten, Musiker und Musikwissenschaftler Peter Imig, dem Produzenten und Breakbeat-Künstler Sebastian Maier, dem Produzenten und Komponisten Chassy Wezar und dem Filmkomponisten und Produzenten Milan Meyer-Kaya begleitet wurde. Neben der kreativen Arbeit mussten auch rechtliche Stolpersteine aus dem Weg geräumt werden. Nicht alle Nachlassverwalter der eigentlichen Komponisten waren nämlich sofort erfreut über die Neubearbeitungen. Letztlich konnten aber doch alle gewünschten Partituren freigegeben werden.
Arfmann lässt den bekannten Ballett-Motiven ihre Dynamik: Er regt zu Träumereien an oder schwelgt in üppigen Arrangements. Ganz so, wie es die Vorlagen vorgegeben haben. Die Wirkung der Kompositionen wird jedoch nicht verwässert, sondern per Collage-Technik oder Verfremdung in unterschiedliche Auffassungen überführt. Das schafft ungewöhnliche Klangdimensionen, die herkömmliche Hörgewohnheiten aufbrechen. Und das schöne dabei ist: Die Musik erfüllt auch dann ihren anregenden Unterhaltungswert, wenn Klassik und Ballettmusik nicht zu den vom Hörer bevorzugten Musikstilen gehören.
Einen Überblick über die Musik gibt es hier:

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