THE MILK CARTON KIDS - ALL THE THINGS THAT I DID AND ALL THE THINGS THAT I DIDN´t DO (2018)

Wunderschön! THE MILK CARTON KIDS baden bei ihrem neuen Werk ALL THE THINGS THAT I DID AND ALL THE THINGS THAT I DIDN´t DO in Wohlklang, aber sie vergessen auch nicht, kreative Glanzpunkte zu setzen. Wie das geht, kann hier nachgelesen werden:

Konstruktive Krisenbewältigung: The Milk Carton Kids setzen auf Wohlklang und Kreativität.

Einer der vordersten Plätze in der Jahresendabrechnung für den längsten Album-Titel ist The Milk Carton Kids mit „All the Things That I Did And All the Things That I Didn't Do“ schon jetzt sicher. Darauf hat es das Folk-Duo der singenden Akustik-Gitarristen Joey Ryan und Kenneth Pattengale aus Eagle Rock in Kalifornien aber sicher nicht abgesehen. Nachdem sich die beiden Musiker 2011 zum Folk-Duo Milk Carton Kids zusammenschlossen, veröffentlichten sie drei Alben und wollten jetzt primär eine Veränderung in ihrem Sound herbeiführen, indem sie einige Gastmusiker zuließen. Dazu gehörten Brittany Haas (Geige und Mandoline), Paul Kowert und Dennis Crouch am Bass, Jay Bellerose am Schlagzeug, Pat Sansone an Tasteninstrumenten, Russ Pahl (Pedal-Steel Gitarre), die Sängerinnen Lindsay Lou und Logan Ledger sowie Levon Henry an Klarinette und Saxophon. Letzterer ist der Sohn von Joe Henry, der hier wieder mal für eine einfühlsame Produktion gesorgt hat.

Die Platte steht allerdings nicht nur für eine Erweiterung des Musikverständnisses, sondern auch für neue Lebenssituationen der Duett-Partner. Ryan wurde Vater und hatte sich in letzter Zeit schwerpunktmäßig auf Produzentenarbeiten konzentriert. Auch Pattengale produzierte Platten in Nashville, seine Beziehung ging in die Brüche und er musste zu allem Überfluss noch eine Krebserkrankung besiegen. Alle diese Erfahrungen und Entwicklungen der Künstler, also hauptsächlich die Konfrontation mit weichenstellenden Herausforderungen und Veränderungen haben zu einer intensiven Beschäftigung mit den existenziellen Fragen des Lebens geführt. Deshalb gibt es in der aktuellen Musik auch diese starken Gefühlsregungen, wie Demut, Trauer, Dankbarkeit und Schmerz, die kreativ und virtuos in sensible Songs eingebettet wurden.
Wehmut begleitet „Just Look At Us Now“ und lässt den Track flehend und hoffend in Erinnerungen schwelgen. Bass und Gitarren spinnen ein feines, flexibles Tongerüst, welches den gefühlvollen Gesang geschmeidig gleiten lässt.

„Nothing Is Real“ nutzt belebende Elemente aus dem Jazz, um dem im Prinzip besinnlich agierenden Stück Schwung zu verleihen. Im Country-Song „Younger Years“ wird eine innige emotionale Verbundenheit zwischen den Sängern demonstriert, wie sie auch „The Boxer“ von Simon And Garfunkel suggeriert. Der sinfonisch angehauchte Folk-Pop „Mourning In America“ verbreitet den Eindruck, als wäre er ein verschollener Track aus den 1960er Jahren. Dieses die Sinne streichelnde Kleinod klingt jetzt schon fast so vertraut wie ein Beatles-Song.
„You Break My Heart“ besitzt die brüchige Sensibilität einer Willie Nelson-Komposition und „Blindness“ vermittelt eine tiefe Zerrissenheit und Unsicherheit, so wie es einige Psycho-Folk-Gebilde von David Crosby tun. Das epische, zehnminütige „One More For The Road“ beweist die Improvisationstalente der Musiker. Im Kern handelt es sich hier um ein ausuferndes, teils frei agierendes Stück, das stilistisch durchaus dem Hippie-Folk oder dem Folk-Jazz zugerechnet werden kann. Der Country-Folk „Big Time“ wird dann von einer aufmunternden Geige dominiert, wodurch der Song seine ruhig-gelassene Seite nicht voll ausleben kann.
Das liebliche „A Sea Of Roses“ hält souverän die Balance zwischen tränenziehendem Liebeslied und harmonisch schmeichelndem Country-Pop. „Unwinnable War“ steht stellvertretend für die Wirkungsweise vieler Lieder auf diesem ausdrucksstarken Werk: Ein warmer Schwall gefühlsbetonter Harmonien empfängt den Hörer. Das lädt zum Nachdenken und Mitfühlen ein. Noten aus Seelenbalsam begleiten diese gedankenverlorene Zuversicht. Was für ein brillantes, unter die Haut gehendes Stück. Mit „I've Been Loving You“ schnappt die köstlich mundende Herz-Schmerz-Falle endgültig zu und das süße Gift verbreitet seine angenehm betäubende Wirkung.
Die größere Besetzung hat nicht unbedingt zu einem opulenten Sound, aber zu farbigeren Ausführungen geführt. Die Arrangements sind trotzdem weiterhin transparent und gediegen ausgefallen. Die Milk Carton Kids setzen da an, wo der Folk-Music-Hype nach „O Brother, Where Art Thou“, jener Mississippi-Odyssee, die die Coen-Brüder im Jahr 2000 in die Kinos brachten, aufgehört hat. Die schöpferischen Musiker realisieren stimmungsvolle, oft sehnsüchtige Lieder. Sie setzen auf Melodien, die mit einer anderen Begleitung durchaus Pop-Hits werden könnten. Oder sie verfassen Epen, die sich wie Akustik-Versionen von psychedelischen Tongebilden anhören. Ihre Attraktivität beruht sowohl auf den stimmigen, ausgeklügelten Songs wie auch auf dem harmonischen Duett-Gesang, der dem von Simon And Garfunkel oder den Everly Brothers in nichts nachsteht. Die bitter-süße Sehnsucht vieler Kompositionen erfüllt das Herz trotz der vorherrschenden nachdenklichen Gemütslage mit Trost. Selten haben sich Wehmut, und Trauer so sanft, wohlig und beschwichtigend angefühlt. Einfach wunderschön!

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