Close Talker - How Do We Stay Here? (2019)

Close Talker zelebrieren die Verquickung von Ambient und Pop. Diese Mixtur präsentieren sie auf "How Do We Stay Here?" verzückend und harmoniebeseelt mit künstlerischer Herangehensweise.
Das kanadische Trio Close Talker stammt aus der Stadt Saskatoon, die sich im Norden des Landes befindet. Hier sind die Winter kalt, trocken und lang. Mit 2.268 Sonnenscheinstunden pro Jahr ist es dort aber sonniger als im Durchschnitt in Kanada. Die Temperaturen von Sommer und Winter können zwischen +40 und -50 Grad Celsius liegen. Sind durch diese anstrengenden, extremen Witterungen etwa die Wünsche nach Harmonie und Ausgeglichenheit genetisch voreingestellt, die in der Musik von Close Talker mitschwingen?
2012 gegründet, besteht die Gruppe aktuell aus Will Quiring (Lead Vocals und Gitarre), Matthew Kopperud (Gitarre, Keyboards und Gesang) und Chris Morien (Schlagzeug, Gesang). Die Musiker kennen sich schon seit den Kindertagen und haben alle musikalische Früherziehung genossen. Durch einen Auftritt bei einer Hochzeit sind sie zur Bandgründung animiert worden und funktionieren seitdem als konstruktive Einheit. So entstehen ihre Songs in der Regel als Gemeinschaftsproduktion. Drei Alben sind schon unter diesen Bedingungen entstanden und haben die Männer reifen und noch weiter zusammenwachsen lassen. Für das aktuelle Werk gingen die empfindsamen Künstler hinsichtlich der gewünschten Symbiose noch einen Schritt weiter und stellten zehn Grundsätze des Handelns auf, wie z.B.: „Der Song ist das Wichtigste“, „Kein Ego!“, „Weniger ist mehr“ und „Klarheit“.
Ihren Stil hat die Band als Ambient-Indie-Pop-Rock bezeichnet, was natürlich nur eine vage Beschreibung dessen ist, was sich wirklich im Detail abspielt. Der Sound ist differenziert und wohlklingend, ab und zu auch mit kleinen, nicht zu grellen Widerhaken versehen. Der hymnenhafte, pathetische Progressive-Pop von „Void“ gibt dazu schon einen entsprechenden Eindruck und leitet das Album schwelgend ein, wobei mystisch schwebende und rhythmisch griffige Klangerlebnisse verbreitet werden.
Ein Kernstück und Muster-Beispiel dafür, wie eingängiger Pop und anspruchsvolle Kompositionstechnik Hand in Hand gehen können, ist „Wait“. Über einen federnden Takt legt Will Quiring seine reserviert melancholische Stimme und die Keyboards malen dieses Gebilde teils in vom Mond beschienenen und teils in Schatten gehüllte Farben aus. Die E-Gitarre baut dazu vorsichtig Druck auf. Kitschig-quietschende Keyboards stehen bei „The Change It Brings“ im Kontrast zum ernsthaften Gesang. Der kann auch mehrstimmig aufgebaut sein und lässt das eigentlich nach Einklang suchende Lied sakral erscheinen. 
Lässige Drum-Loops, schillernde E-Gitarren-Akkorde und stoische Minimal-Art Keyboard-Klänge bilden das Gerüst von „Arm's Length“. Der seriöse Gesang setzt diesem im Grunde sentimentalen Song ein kontrollierendes, emotionssteuerndes Sahnehäubchen auf.
Fanfarengleich wird „Pace“ eröffnet, bevor das Stück zum selbstbewussten, relativ schwungvollen Pop mutiert. 
Wie ein Leuchtfeuer in der Nacht sendet „Wandering“ seine blinkenden Signale aus, während „Half Past Nine“ anregende Ruhe vermittelt, was in diesem Fall kein Widerspruch ist: Die Drum-Machine klopft gemächlich und zufrieden und die E-Gitarre setzt dazu feine, stützende Glanzlichter ab. 
Das dynamisch abgestufte „Carefully In The Dark“ nistet sich stilistisch irgendwo zwischen The Blue Nile und New Order ein und das etwa zweiminütige instrumentale Zwischenspiel „The Lake By The Hotel“ transportiert im Gegensatz dazu unverblümt jazzige Space-Elektro-Pop-Klänge als intellektuelle Klangtapete. „All-Time“ ist eine melodisch und instrumentell herausfordernde Ballade, die zum Träumen und Nachdenken anregt. „Refuge“ trägt dann Trauerflor und läuft entsprechend langsam und schleppend ab.
Durch ihre von Brainstorming geprägte Kompositionstechnik sind Close Talker stets auf der Suche nach sinnvollen Verbesserungen und Innovationen. In diesem Jahr starten sie deshalb eine Tournee, bei der sie dem Publikum ihre Musik über Kopfhörer vermitteln, um einen 3D-Surround-Sound präsentieren zu können. Close Talker haben grundsätzlich den richtigen Weg eingeschlagen, um sich mehr und mehr vom Mainstream zu emanzipieren. Mit noch weiter ausgeprägter künstlerischer Feinjustierung könnte ihnen demnächst etwas ganz Großes gelingen. Ich denke da an Japan um David Sylvian oder Talk Talk um Mark Hollis, die sich aus einer ähnlichen Ausgangssituation zu eigenständigen, kreativen und stilprägenden Art-Pop-Ikonen aufgeschwungen haben. Der Grundstein dafür ist jedenfalls mit „How Do We Stay Here?“ gelegt.

Erstveröffentlichung dieser Rezension: Close Talker - How Do We Stay Here?

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Waiting For Louise - Rain Meditation

Jahresbestenliste 2023

Lesestoff: Pop steht Kopf